[Montag, 16.03.2020] Nacht o.k. endlich mal wieder; nur ausgetrocknete Fresse, wie so oft in letzter Zeit.
Andrea M. auf Facebook: »Sollten wir gebeten werden zu Hause zu bleiben, frage ich was geschieht mit unseren Obdachlosen, den Junkies im Park die täglich ihre Drogen kaufen müssen, den Huren die keinen Cent Erspartes haben mit einem Zuhälter der die Rute schwingt, und was geschieht in den Gefängnissen?«
»[…] Das Hafenspital muss dieser beweglichen und wimmelnden Masse Herr werden, indem es das Durcheinander von Gesetzwidrigkeit und Krankheit entwirrt. Die medizinische Überwachung der Krankheiten und der Ansteckungen geht Hand in Hand mit anderen Kontrollen:
mit der militärischen Kontrolle der Deserteure, mit der fiskalischen Kontrolle der Waren,
(Michel Foucault – Überwachen und Strafen S.185)
mit der administrativen Kontrolle der Heilmittel, der Verpflegung, der Abwesenheiten, der Heilungen, der Todesfälle, der Verstellungen.«
Wir sind auf dem Weg ins Hafenspital.
Wir könnten uns im Umgang mit dem Virus an den Trauerphasen von Elisabeth Kübler – Ross orientieren meint Slavoj Žižek:
Erstens: Verleugnung (man weigert sich einfach, die Tatsache anzuerkennen: «Das kann mir nicht passieren, mir doch nicht»). Zweitens: Wut (sie bricht aus, wenn wir die Tatsache nicht länger leugnen können: «Wie kann das mir geschehen?»). Drittens: Verhandeln (die Hoffnung, wir könnten die Tatsache irgendwie hinausschieben oder herunterspielen: «Wenigstens so lange, dass ich den Schulabschluss meiner Kinder erlebe»). Sodann: Depression («Ich werde bald sterben, warum also sollte mich noch irgendetwas kümmern?»). Zuletzt: Akzeptieren («Ich kann nicht dagegen ankämpfen, also kann ich mich ebenso gut darauf vorbereiten»).
Slavoj Žižek 04.03. NZZ
[ …]
Im Mittelalter reagierte die Bevölkerung einer von der Pest heimgesuchten Stadt auf die Anzeichen der Krankheit ähnlich. Zunächst Verleugnung, dann Wut (auf unser sündiges Leben, für das wir bestraft werden, oder gar auf den grausamen Gott, der die Seuche zugelassen hat), dann Verhandeln (es ist nicht so schlimm, meiden wir doch einfach die Kranken . . .), dann Depression (unser Leben ist vorbei . . .) und anschließend interessanterweise Orgien (weil das Leben vorbei ist, wollen wir alle Freuden auskosten, die noch möglich sind – Trinken, Sex . . .) – und am Ende Akzeptieren: Da sind wir nun, wir sollten uns einfach so verhalten, als ginge das normale Leben weiter.
[Dienstag, 17.03.2020] Nacht miserabel mit sehr leichtem Schlaf; gegen 4 Uhr ausgetrocknete Fresse.
Halte mich an die neuen Regeln. Mit knapp 70 Jahren und vorgeschädigten Bronchien gehöre ich zur »vulnerablen« Risikogruppe.
Schicke M. meinen Einkaufszettel via WhatsApp. Sie hat angeboten für mich einzukaufen; macht das auch für ihre Mutter. Lieber einkaufen, als mit Blümchen hinterher laufen, meint sie.
Wir chatten während sie im Drogeriemarkt vor den Regalen steht. Das klappt prima. Während wir chatten verbrennt in der Küche auf dem Herd der Grieß für die Suppe. Die ganze Wohnung ist voll Qualm und Rauch; reiße den Topf vom Herd noch bevor der Rauchmelder los heult. Multitasking und Stress klappt nicht. Alle Fenster auf, zwei Ventilatoren an. Hustenanfälle halten sich in Grenzen. Mit dem Virus haben sie nur indirekt was zu schaffen.
COVID-19 befällt nicht nur die Lunge, sondern auch das Hirn, es setzt aus oder rotiert. Würde gerne abschalten, gelingt mir nicht.
Jage die Ängste fort
(Mascha Kaleko)
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
[ … ]
Zerreiss deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Vor dem Einschlafen höre ich mir auf NDR das Corona – Virus Update mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie in der Berliner Charité an. Er hat recht, nimmt man sich Zeit, hört eine halbe Stunde konzentriert zu, kehrt mehr Ruhe in den Gedanken ein. Es ist eigentlich egal, was er sagt.
[Mittwoch, 18.03.2020] Schokoladen – Dosis gestern Abend war zu hoch, Blähungen. Nacht vertretbar.
Die »Frische – Kiste« bringt Gemüse und Obst für die nächsten 14 Tage. Das läuft schon seit August.
Das Kind leiht sich mein Fahrrad aus. Auf Fahrrädern kann die geforderte Distanz von ein bis zwei Metern zwischen den Menschen eingehalten werden. Das Strandbad, die Wiesen an Rhein und Neckar sind abgesperrt. Spielplätze und Stadtparks geschlossen.
Es bleibt unübersichtlich. An manchen Tagen erscheint der Rhein als Grenze zwischen der amerikanischen und der französischen Zone wieder aufzuerstehen. Noch braucht man keine Passierscheine, wenn man ihn überqueren will. Ich erwarte Ausgangssperren in den nächsten Tagen.
Während die mittelalterliche Medizin, die noch ganz auf die Nachfrage und den Leidensdruck der Kranken reagierte, mit der kurativen Fokussierung des kranken Körpers nur mäßige Erfolge in der Bekämpfung grassierender Krankheiten erzielte, besteht der Erfolg der modernen Medizin gerade darin, dass sich die ärztliche Praxis allmählich von einer vorrangig krankheitsbezogenen Technik in eine soziale Technologie wandelt. So wurden die großen pandemischen und epidemischen Infektionskrankheiten des 18. und 19. Jahrhunderts wie Pest, Tuberkulose und Cholera bereits vor Pasteur und vor der Erfindung des Impfens erfolgreich durch die Medizin bekämpft. Jedoch nicht, weil die mikrobiologischen Grundlagen und Übertragungswege der Erkrankungen verstanden worden wären, nicht weil die medizinische Diagnostik und Therapeutik den Sieg über die Erreger brachte, konnten Pest und Cholera Einhalt geboten werden, sondern weil man dazu überging, disziplinierende und bevölkerungspolitische Maßnahmen einzuführen – von der polizeilichen Durchsetzung der Hygiene über die Parzellierung und Überwachung des Raums bis hin zur pädagogischen und moralischen Führung der individuellen Körper und Verhaltensweisen. Die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin ist an diese Transformation zu einer Sozialtechnologie geknüpft, die auf die Regulierung der Bevölkerung und Lenkung der individuellen Lebensweisen zielt. Kurzum, erst in dem Moment, da die Medizin über die individuelle Interaktion zwischen Heiler*innen und Kranken hinaus geht und den engeren Fokus auf die symptombezogene Behandlung des leidenden Menschen überwindet, kann sie diese gesellschaftliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Verbesserung des Lebens erhalten, die ihr bis heute zugestanden wird.
Zitiert und zusammengefasst nach Mike Laufenberg: Die Macht der Medizin.
Diese präventionslogische »Staatsmedizin« wurde auf der anderen Seite durch eine Privatisierung und Vermarktlichung von Gesundheits- und Versorgungsleistungen begleitet, die das ohnehin sozial zerklüftete öffentliche Gesundheitssystem weiter aushöhlten.
[Donnerstag, 19.03.2020] Nacht vertretbar. Es bleibt unübersichtlich. Was schreib ich hier? Ein Protokoll? Es schleichen sich Erklärungen ein. Die haben da nichts verloren. Ich muss mir nichts erklären. Dafür ist die Kanzlerin zuständig:
Am Mittwochabend hat Angela Merkel eine Fernsehansprache zur Corona-Krise gehalten. Die passenden Worte fand sie dabei nicht, mal tönte sie wie eine Lehrerin, mal wie eine Pastorin. Das öffentliche Leben müsse «so weit es geht heruntergefahren» werden, so die Kanzlerin. Das deutet darauf hin, dass bald neue Einschränkungen folgen werden. Konkrete neue Maßnahmen kündigte die Kanzlerin aber nicht an. Ihre Landsleute dürfte sie durch ihren Auftritt weder beruhigt noch beunruhigt haben.
NZZ 19.03.2020.
Ich beginne den Tag am Laptop mit dem »Briefing« der NZZ.
Susan Sonntag schrieb ihre Tagebücher teilweise in Form von Listen.
14.-15.9.61
- 1. Mich nicht wiederholen
- 2. Nicht versuchen amüsant zu sein
- 4. Meine Knöpfe annähen (+ selbst zugeknöpfter sein)
- 6. Jeden Tag baden und alle zehn Tage die Haare waschen
- 8. Mich nicht über andere Leute lustig machen, nicht gehässig sein.
Listen gefallen mir, sie strukturieren. Leider kann ich damit nicht umgehen, übe noch. Gerne würde ich mich überlisten.
Listenprotokoll für heute »Susan – Donnerstag« nach Taten und Zubehör.
- Aufstehen – Säureblocker einnehmen.
- Kaffee aufbrühen (¾ L Wasser, 3 Löffel Kaffee)
- Fressnäpfe spülen, 2 Katzen und 3 Raben füttern (Trockenfutter, Futter aus dem Beutel, Erdnüsse, Frolic und frisches Wasser)
- Müsli richten. (2 EL Fünfkorn Müsli, 1 EL Haferflocken, 1 Birne, 1 Banane, 1/8 L Milch)
- Duschen (Wasser, Seife, Handtuch)
- Frühstück (s.o.)
- Magium K-forte – (Magnesium und Kalzium extra zum Eindämmen der Nebenwirkungen des Säureblockers)
Kalte Hände sind für mich Normalzustand. Magnesium und Kalzium Mangel. Seit Tagen sind sie nicht mehr so kalt; ab und an ein leicht panischer Griff zum Fieberthermometer hat sich eingeschlichen.
Runter kommen von der Meta – Ebene, Mittagessen.
Baby, es gibt Grieß(suppe)!
[Samstag, 21.03.2020] 2:30 Uhr Frühlingsanfang mit leichter Übelkeit und ausgetrockneter Fresse. Was ist los? Das Suse-Katz kommt nicht aus dem Bett, schreit, fällt um, steht auf, schreit, fällt um, kann kaum laufen. 8:30 Uhr Katze hat sich gefangen, läuft und frisst normal und ist ruhig. Finde eine blutige Kralle im Bett. Die Katze hatte sich mit der Hinterpfote verheddert und eine Kralle abgerissen. Das war es.
In der NZZ nimmt Hans Pargger, Chefarzt der Intensivstation am Universitätsspital Basel, zur intensivmedizinischen Betreuung von Corona Patienten Stellung.
Ältere und geschwächte Personen müssen nach einer Infektion mit dem neuen Coronavirus nicht selten auf der Intensivstation behandelt werden. Dort dreht sich alles um den entzündungsbedingt eingeschränkten Gasaustausch in der Lunge.
Um in der jetzigen Situation die Intensivstationen nicht unnötig zu belasten, wäre es laut Pargger dringend nötig, dass sich alle älteren Personen Gedanken machten, ob sie im Ernstfall künstlich beatmet und intensivmedizinisch behandelt werden möchten oder nicht. «Idealerweise haben wir bei schwerkranken Patienten eine Patientenverfügung», sagt der Arzt. Auch gut informierte Angehörige seien hilfreich. «Wir wollen schließlich die Patienten nicht gegen ihren Willen behandeln.» Betrage bei einem Patienten die Chance, dass er die intensivmedizinischen Maßnahmen in guter Verfassung überlebe, zum Beispiel nur zehn Prozent, bedeute das möglicherweise, dass man neun von zehn Patienten falsch behandle, gibt der Mediziner zu bedenken. Deshalb sei es für das Spitalpersonal so wichtig, den Patientenwillen zu kennen – auch in Zeiten ohne Covid-19-Pandemie.
Alan Niederer – Corona-Krise: Im Kampf gegen das Lungenversagen NZZ 21.03.2020
Beunruhigt mich sehr. Habe erst am 11. März meine Patientenverfügung aktualisiert. Schreibe meiner Schwester eine E-Mail mit dem Artikel im Anhang.
Um im Falle einer Corona Infektion auf der Intensivstation bei notwendiger Beatmung zu überleben, müsste ich meine Patientenverfügung ändern mit allen daraus folgenden Risiken.
Ich ändere sie nicht. Wenn die Chancen, die Beatmung in guter Verfassung zu überstehen gering sind, will ich sie nicht.
Die Hoffnung glimpflich davon zu kommen habe ich immer noch, keine Sorge.
[Sonntag, 22.03.2020] Nacht sehr mäßig. Die Tage werden immer hektischer im Kopf, Ruhe gewinnen.
22 Uhr meine Schwester kommt, übergebe ihr an der Haustür Vollmachten und Patientenverfügung für den Notfall, der hoffentlich nicht so schnell eintreten wird. Mein Schwager bleibt im Auto sitzen.