[Freitag, 15.01.2021] Für mich ist das Leben zur Zeit ruhig aber anstrengend.
Ein Brief an Freunde …
Corona tangiert mich schon; aber in anderer Weise, wie sich die Leute das vorstellen. Ich huste, seit ich lebe – auch ohne Corona; meine Atmung ist seit Geburt eingeschränkt. Eine FFP2 Maske nutze ich seit 3 Jahren, wenn die Feinstaub- oder Ozonbelastung hoch ist. Die Maske erspart mir Cortison in Form von Spray oder Tabletten und ist bei akutem Bedarf sofort wirksam. Ich gehöre also nicht nur altersmäßig zur Risiko Gruppe, vulnerabel sind wir alle. Für meinen Schutz bin zunächst ich verantwortlich; ich brauche keine Hygiene Vorschriften in Sachen Hände waschen und lüften. Ich wahre Distanz und umarme wen ich will, wenn er oder sie das ebenfalls will.
Mein Wirbelsäulendefekt bescherte mir auch von Geburt an eine Innenohrschwerhörigkeit. Während der Schulzeit besuchte ich zeitweise den Förderunterricht für Hörgeschädigte in der Uhland – Schule. Die haben mich allerdings nicht behalten; so taub war ich nun doch nicht. Mit Hörgerät rechts und der Fähigkeit von den Lippen ablesen zu können kam ich bis zum Frühjahr letzten Jahres einigermaßen über die Runden.
Im März kam die Maskenpflicht und es war Sense mit von den Lippen ablesen; habe die Leute extrem schlecht verstanden. Hinzu kam: Mein Hörgerät ist nach mehr als zwanzig Jahren Gebrauch am Ende gewesen und funktionierte nur noch eingeschränkt. Als es im Spätherbst wieder möglich war, Arzttermine zu kriegen, machte ich mich auf die Suche nach einem HNO – Arzt. Meine Anforderungen: er muss mit Fahrrad erreichbar sein und sich mit Wirbelsäulen bedingter Innenohr-Schwerhörigkeit auskennen, wenn möglich Belegarzt am Theresien Krankenhaus sein. Alle HNO – Ärzte, bei denen ich bisher war, waren auch am Theresien.
Meine Wahl fiel auf Matthias R. in der Beethovenstraße. Vor dem Haus standen wir früher ab und zu, wenn wir uns im Tulla vom Unterricht abgeseilt hatten, um was zu kiffen, ohne von einem Lehrer erwischt zu werden. Beethovenstraße im Beethoven Jahr wegen Schwerhörigkeit fand ich auch ganz passend.
In der ersten Dezemberhälfte war ich zum ersten Mal dort. Natürlich mit Maske und Hände desinfizieren beim Betreten der Praxis. Im Wartezimmer auf jedem zweiten Stuhl ein Schild: Platz freihalten bitte. Ich kam mir vor wie im Kindergarten; mein rechter Platz ist leer, ich möchte, dass sich … zu mir setzt.
Beim Wechsel vom Wartezimmer ins Behandlungszimmer, Hände desinfizieren. Dr. R. groß, kräftig, durchtrainiert schwarze Haare Millimeter kurz, Vollbart und FFP2 Maske. Mit Hörgerät ganz miserabel verstanden. Er steht auf, geht zwei Schritte zurück, macht mir mit der Hand Zeichen, ich soll auch zwei Schritte zurück, dann nimmt er die Maske ab. Wir können uns prächtig unterhalten. Das Ritual wiederholt sich ein paar mal während der Untersuchung. Hörtest einfach ohne alles nur mit lauter und leiser reden; Katastrophe. R. schnappt sich vom Schreibtisch eine Fahrradhupe in Froschgestalt und tutet mir links ins Ohr. Ganz taub sind wir nicht, wir machen aber jetzt einen richtigen Hörtest, dann sehen wir weiter. Nach Verlassen des Behandlungszimmers vor der Schallschutzkabine Hände desinfizieren. Nach Hörtest geht es in einen Raum, in dem er Allergie-Tests macht. Vorher Hände desinfizieren. An der Wand hängen für jeden Arzt in der Praxis auf den Namen ausgestellte Hygiene Richtlinien von der Landesärztekammer, wie der Test abzulaufen hat und welche Hygienemaßnahmen zwischen den einzelnen Schritten zu beachten sind. R. will bei einem neuen Termin einen umfassenden Test machen, er brauche dafür allein für mich ein bis zwei Stunden. Dafür sei es jetzt zu spät. Da ich ihn mit Maske natürlich wieder kaum verstehe, mache ich ihm den Vorschlag: Corona Ballett für Hörgeschädigte und winke ihn zurück, während ich zurück gehe. Er nimmt die Maske ab, lacht sich schlapp und wir können uns normal unterhalten.
Bei der Wahl des Hörgeräte Akustikers hatte ich ebenfalls den richtigen Riecher; S. und M. am Tattersall. Habe dort Marco S., den Geschäftsführer, erwischt. Der Mensch ist super; hat sich für das erste Treffen mit Hörtest und provisorischer Anpassung von einem Leihgerät über zwei Stunden Zeit für mich genommen von neun bis halb zwölf. Hinterher habe ich erfahren, Marco S. ist für die ARD der Experte für Hörgeräte, wenn es um Hörgeräte geht, ist der im Studio. Beim nächsten Treffen waren die Ohrpassstücke für rechts und links fertig und er konnte erste Anpassungen für beide Ohren vornehmen.
So und jetzt beginnt eine der größten Veränderungen. Mit 70 Jahren höre ich zum ersten Mal in meinem Leben auf beiden Ohren gleichmäßig. Mein Gleichgewichtssinn ist am Rotieren, meine räumliche Orientierung ist weg, die Zuordnung von Geräuschen und Stimmen funktioniert nicht mehr. Nach einer Woche Chaos die nächste verfeinerte Anpassung, hatte in den ersten Tagen nur Krach mit Hall in schrecklicher Lautstärke wahrgenommen, Kopfschmerzen, müde, fast gekotzt wegen Gleichgewicht und Anstrengung. Zweite Anpassung erlaubte mir, eine stärkere Flexibilisierung in der Einstellung, da ich nicht jeden Tag gleich gut oder schlecht höre. Der Akustiker programmiert die Dinger so weit es geht, nach meinen Vorstellungen und meinem Empfinden.
Ich habe gelernt, dass es nicht die Lautstärke ist, von der ich Kopfschmerzen kriege sondern die Anstrengung. Die Nerven des Hörzentrums im Gehirn müssen reaktiviert bzw. auf der linken Seite zum ersten Mal aktiviert werden. Das dauert in der Regel 6 – 8 Wochen bzw. 2 -3 Monate. Mit einem dreiviertel Jahr müsse ich rechnen. Ich höre Dinge, die ich in meinem Leben noch nie gehört habe. Seit dem 22. Dezember höre ich beidseitig. Inzwischen kann ich wieder das Miauen der richtigen Katze zuordnen, aber nicht erkennen wo sie ist und von wo sie miaut. Von drei Hunde erkenne ich einen, aber wo er bellt – Fehlanzeige. Eine Person im Raum, kein Problem. Zwei Personen, ich verstehe alles, kann aber nicht zuordnen, wer es gesagt hat, bei drei und mehr Personen bin ich weg. Kann auch nicht unterscheiden, ob die Stimmen im Raum aus dem Fernseher kommen oder ob jemand spricht.
Musik kann ich nun Stereo hören! Kann Filme in der Glotze gucken und habe den Ton auf beiden Ohren; zwei Filme aus der ARTE Mediathek geguckt.
In den Feldern trainiere ich mit dem Hund zu Fuß den Gleichgewichtssinn und teste den Verkehrslärm. Fahrradfahren ist zwiespältig, ich habe ja vorher links so gut wie nichts gehört. Wenn links einer vorbeigefahren ist, habe ich das mit dem rechten Ohr wahrgenommen und zuordnen können. Jetzt höre ich es auch links, weiß aber nicht woher es kommt.
Mittags schlafe ich im Sitzen auf dem Sofa ein Stündchen mit Hörgeräten, damit ich nicht aus dem Takt komme. Abends bin ich kaputt. Die kleinen grauen Zellen laufen auf Hochtouren. Nachts träume ich oft einfach die Fortsetzung des Tages weiter. Inzwischen weiß ich, was »Schubladen – Hörgeräte – Träger« sind; das sind Leute, die das nicht durchhalten und die Dinger dann in die Schublade legen.
Es ist mir eher recht, wenn sich meine Kontakte zur Zeit Corona bedingt reduzieren.
Ich lese, soweit es meine Konzentration zulässt.
Es ist nicht an der Zeit, irgendeine geistige Authentizität zu suchen und in den ultimativen Abgrund unseres Seins zu starren. »Versuchen Sie, sich ohne Scham mit Ihrem Symptom zu identifizieren.« (Zizek zitiert Lacan). Denken Sie nicht zu sehr an die Zukunft, sondern konzentrieren Sie sich auf das heute und darauf, was Sie tun werden, bis Sie sich schlafen legen. Die wichtigste Aufgabe liegt darin, Ihr Alltagsleben auf eine stabile und bedeutungsvolle Weise zu strukturieren.
Žižek, Slavoj, Peter Engelmann und Aaron Zielinski: „Pandemie!. COVID-19 erschüttert die Welt“, S. 105.