Lieber Max,
Heute regnet es schon den ganzen Tag. Ich bin unsicher, ob ich mit dem kleinen Hund eine kurze Runde spazieren gehen kann. Während Regen mir nicht viel ausmacht, ist der Hund wasserscheu. Ich habe Dir bereits erzählt, warum es mir wichtig ist, jeden Tag mit dem Hund spazieren zu gehen. Es hilft mir, die beginnenden Lähmungen in meinen Beinen und Füßen zu beobachten und meine Muskulatur zu stärken. Außerdem unterstützt das Gehen mich beim Denken und ich kann besser schreiben.
Beim Gehen in unserem eigenen Tempo entsteht eine natürliche Verbindung zwischen dem Rhythmus unseres Körpers und unserer mentalen Verfassung. Diese Erfahrung ist nicht so leicht zu erreichen, wenn wir im Fitnessstudio joggen, Auto fahren, Rad fahren oder uns anderweitig fortbewegen. Beim Spazierengehen passt sich das Tempo unserer Füße ganz natürlich unserer Stimmung und dem Rhythmus unserer inneren Sprache an. Gleichzeitig können wir bewusst das Tempo unserer Gedanken beeinflussen, indem wir schneller oder langsamer gehen. Da das Gehen keine besondere Anstrengung erfordert, kann unsere Aufmerksamkeit frei wandern und unsere Gedanken mit einer Vielzahl von Bildern aus unserem Kopfkino überlagern.
Was macht das Gehen so besonders, dass es sich so gut zum Denken und Schreiben eignet? Die Antwort liegt in den Veränderungen unserer Chemie. Beim Spazierengehen pumpt das Herz schneller, wodurch mehr Blut und Sauerstoff nicht nur zu den Muskeln, sondern auch zu allen Organen, einschließlich des Gehirns, fließen. Zahlreiche Experimente haben gezeigt, dass Menschen nach oder während des Laufens, selbst bei geringer Anstrengung, bei Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstests besser abschneiden. Regelmäßiges Gehen fördert zudem die Bildung neuer Verbindungen zwischen den Gehirnzellen, verhindert das übliche Schrumpfen des Gehirngewebes im Alter, vergrößert das Volumen des Hippocampus (eine für das Gedächtnis wichtige Hirnregion) und erhöht die Konzentration von Molekülen, die sowohl das Wachstum neuer Neuronen anregen als auch die Kommunikation zwischen ihnen ermöglichen.
Die tiefgreifendste Verbindung zwischen Gehen, Denken und Schreiben zeigt sich am Ende eines Spaziergangs, wenn wir zurück an unserem Schreibtisch sind. Hier wird deutlich, dass Schreiben und Gehen ähnliche Leistungen sind, die gleichermaßen körperlich und geistig sind. Wenn wir einen Weg durch eine Stadt oder einen Wald wählen, muss unser Gehirn die Umgebung erkunden, eine mentale Karte erstellen, sich für einen Weg entscheiden und diesen Plan in eine Reihe von Schritten umsetzen. Ähnlich zwingt uns das Schreiben dazu, unsere eigenen Gedankenlandschaften zu überprüfen, einen Kurs durch dieses geistige Terrain zu planen und die resultierenden Gedanken durch das Führen unserer Hände zu Papier zu bringen. Beim Gehen ordnen wir die Welt um uns herum, beim Schreiben ordnen wir unsere Gedanken.