Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft, Direktor der Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, entwickelte Anfang der 90er-Jahre im Rahmen einer Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Konzept der Trauma-Reaktivierung und forscht seitdem an der Verarbeitung von Kriegs- und Gewalterfahrungen.
Es gibt ja die letzten Jahrzehnte immer schon weltweit kriegerische Konflikte, die auch in den Medien abgebildet werden. Die Besonderheit jetzt ist, dass der Krieg in Europa stattfindet, mehr oder weniger vor unserer Haustür.
Nur sind es jetzt mit dem Ukraine-Krieg reale Bilder, die an die eigene Kindheit erinnern.
Wir dürfen nicht vergessen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Überlebensstrategie auf gut deutsch »Halt die Klappe und sei froh, dass du überlebt hast!« hieß, anschließend mit viel Disziplin der Wiederaufbau gelang und dann Jahre des Wohlstands folgten, in denen es unpassend wirkte, auf sein eigenes Leiden aufmerksam zu machen. Und ein Großteil der Betroffenen hat bis heute an diesem Muster festgehalten. Die derzeit vieldiskutierten »Hamsterkäufe« weisen zum Beispiel wie in einem Brennglas auf die verborgene Angst vor einem bedrohlichen Mangel an existenzieller Sicherheit hin, den viele dieser Generation durchgemacht haben.
Heuft: 28.03.2022
Im Frühjahr 1958 kam ich in die erste Klasse. Flüchtlingskinder, aus ihrer alten Heimat vertriebene Deutsche, waren nicht sonderlich beliebt, gehörten jedoch zur Normalität. Allmählich tauchten auch andere auf.
»Péternek hívnak.« – Ich heiße Peter. »Hogy hívnak?« Wie heißt Du? Flüchtlinge aus Ungarn, die nach dem Aufstand vom Oktober 1956 Zuflucht in Deutschland gesucht und hier eine neue Heimat gefunden hatten. Aus Péter wurde Peter, aus seinem älteren Bruder István wurde Stefan, Terézia durfte ihren Namen behalten, an die Nachnamen Gergely und Szabo konnte man sich schnell gewöhnen.
Wir wohnten in Mannheim auf dem Lindenhof über der neuerbauten Eisenbahner Kantine direkt hinter dem Hauptbahnhof in der Lindenhofstraße. Von uns aus die Gontardstraße rauf zum Gontardplatz und von dort aus zum Rhein runter dürfte ungefähr 1 km gewesen sein. In der gesamten Straße stand noch ein einziges Haus auf der linken Seite kurz vorm Gontardplatz; alles andere zerbombte Trümmergrundstücke.
Links von uns in der Lindenhofstraße stand ebenfalls noch ein Haus, in dem Eisenbahner wohnten. Gegenüber stand ein Torso von einem Haus; ein Torbogen, der ins Nichts führte, darüber ein Stockwerk, das bewohnt war darüber nichts als verkohlte Balken, kein Dach. Rechts daneben, direkt angebaut ein kleines Häuschen. Im Erdgeschoss zwei winzige Räume und eine Küche. Hier wohnte »Opa Schlotthauer«, ein ehemaliger Binnenschiffer aus dem Rheinland, mit seiner Frau. Im Treppenhaus unten in einem winzigen Kabuff ein Plumpsklo, das auch von Familie B. Benutzt wurde. Die Familie B., Flüchtlinge aus dem Osten, wohnten über den Schlotthauers auf der gleichen Fläche Mutter, Vater und sieben Kinder, sechs Jungs und ein Mädchen. Man wusch sich in der Waschschüssel und zum Baden ging es, wenn überhaupt, ins Hallenbad. Die B-Kinder kamen zu uns in die Kantine entweder mit einer Milchkanne aus Blech, um Suppe zu holen – oder mit einem großen Glaskrug für Bier. Brot holten sie weiter unten in der Lindenhofstraße beim Bäcker Feuerstein. Wenn einer am Bier genippt oder das Brot angefressen hatte. Kam Papa B. im Unterhemd und einer mit einer Kordel zusammengehaltenen Trainingshose runter, stellte sich vor die Haustüre, zog einen Ledergürtel durch die Finger und wartete. Wenn der Übeltäter dann aus dem Haus trat, wurde er mit dem Gürtel verdroschen. Oben in der Wohnung war für derartige Tortur nicht genügend Platz.
Der Umgang mit den Flüchtlingskindern war für uns verpönt und teilweise auch verboten. Verboten war auch »Trümmerles« zu spielen; d.h. die Trümmergrundstücke zu betreten und dort zu spielen. Zu groß die Gefahr, irgendwo durch morsche Decken durchzubrechen oder von herumliegender Munition verletzt zu werden.
Wir hielten uns an keine Verbote. In einem der Trümmergrundstücke war die Kellertreppe noch fast intakt und auch die Kellerräume, teilweise noch Möbel darin, nur die Türen fehlten. Hier wickelten die B-Kinder ihre Geschäfte ab. Zu einem Raum war der Zugang mit Teppichen abgehängt. Davor stand ein Tisch, klapprige Stühle, auf denen zwei von den Jungs saßen und kassierten. Bezahlt wurde mit Kaugummi, Brausepulver anderen Süßigkeiten und Comics. Bargeld hatten die wenigsten. Wenn die Bezahlung stimmte, durfte derjenige in den Raum hinter den Teppichen. Auf einem Feldbett lag das Mädchen, zwei ihrer Brüder passten auf. Einer zog ihr das Höschen runter, nur wer Bargeld hatte durfte sie auch befingern, die anderen mussten sich mit gucken zufrieden geben. Ich wusste allerdings über eine Sonderregelung Bescheid: Wer selber die Hosen runter ließ, um sich von dem Mädchen befingern zu lassen, musste nichts bezahlen. Ich habe nie etwas bezahlt.
Für Therézia aus Ungarn klaute ich in der Kantine aus der Vitrine mit den Süssigkeiten eine Tafel Schokolade. Das gab mächtigen Ärger mit Therézias Lehrerin. »Wie kommst du dazu, einem Mädchen, das du kaum kennst, eine Tafel Schokolade zu schenken?«
Frau H., eine Arbeitskollegin meiner Eltern aus der Küche der Eisenbahner – Kantine, lebte mit ihren Töchtern Roswitha und Christa in dem was vom Hinterhaus neben der Bäckerei Feuerstein noch übrig geblieben war. Ihr Mann war verschollen. Mit ihrem neuen Lebensgefährten, einem Rangierer, konnten sie Anfang Dezember endlich in eine richtige Wohnung am alten Rangierbahnhof ziehen. Nachdem der Umzug abgeschlossen war, besorgte der Mann irgendwoher von einer Bahnbaustelle Dynamit. An Silvester, wo es sowieso überall knallte und krachte, sprengten sie bei einer Flasche Sekt ihre alte Behausung in die Luft, damit sie niemand mehr dahin zurück schicken konnte, nie mehr.