Orientierungsloser Abend

Samstag, 12.03.2022 – Gegen 18 Uhr mit dem Fahrrad in die Neckarstadt zur Theaterprobe von C. – Lenker ließ sich, mit Orthese zwar, schmerzfrei halten. Auf der Ebert Brücke begann ungewohnter Verkehr und akustisches Chaos; konnte die Geräusche sehr schlecht bis gar nicht zuordnen.

Im Theater, ich war da zum ersten Mal nach zwei Jahren Corona – Pause, parallel zur Probe Vorstellung in einem anderen Raum. Immer mehr Leute strömten ins Foyer, Besucherzahl wegen Corona beschränkt. Es wurde immer Lauter. In der engen Garderobe fünf Personen, Kostüme wurden aufgebügelt, letzte Anweisungen erfolgten und Bewegungsproben. Meine räumliche Orientierung löste sich auf, die Koordinationsfähigkeit in den Fingern verschwand. Konnte weder auf C.s iPhone noch auf dem iPad den SMTP Server für die E-Mails einstellen; musste ihr sagen, wo sie drauf tippen und was sie eingeben sollte. Verstanden habe ich kaum noch etwas; konnte nur C. die Stimme zuordnen, zu viele Stimmen hinter mir und zu laut.

Ich musste raus. Im Flur S., den Theater – Leiter, getroffen im direkten Dialog keinerlei Probleme; auch auf dem Hof nicht bei dem kurzen Gespräch mit I. N., der Leiterin eines anderen Theaters. Alle, die ich getroffen habe, waren sehr rücksichtsvoll und baten mich, meine Maske aufzubehalten, aus Angst, es könnte mich jemand anstecken. Bei den Proben gabt es keine Maskenpflicht; im Theater schon für Besucher galt 3 G, geimpft, genesen, getestet.

Der Verkehr in der Langerötterstraße war gruselig; habe aus Sicherheitsgründen das Fahrrad bis zum Café »Adria« geschoben. An der »Alten Feuerwache« standen die Leute Schlange bei »Ein Abend für Afghanistan« im Rahmen des Literaturfestivals »Lesen Hören«. Erst auf der anderen Neckarseite, auf dem Neckardamm verschwand hinter dem Lessing Gymnasium der Verkehr, Orientierung und Sicherheit kehrten zurück.

Ich habe keine soziale Phobie und schon gar keine Lust, mich durch akustische Orientierungslosigkeit in die Isolation treiben zu lassen. Training? Wie? Auf dem Almenhof gibt es eine Logopädin mit dem Behandlungsschwerpunkt Hörstörungen, Hörgeräteversorgung (u. a. Cochlea-Implantat), auch Einsatz der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Ich will ja nicht sprechen sondern hören lernen!

Erinnerungskitsch

Erinnerungskitsch zum 1.

Eine Bibliothek ist seit der Antike ein »Buch-Behälter«, zumindest dem Wortsinn nach βιβλιοθήκη. In der Bibliothekswissenschaft gibt es unterschiedliche Definitionen; eine häufig gebrauchte moderne stammt von Gisela Ewert und dem mir noch persönlich bekannten Walter Umstätter. »Die Bibliothek ist eine Einrichtung, die unter archivarischen, ökonomischen und synoptischen Gesichtspunkten publizierte Information für die Benutzer sammelt, ordnet und verfügbar macht.« 1

In Mannheim ist das natürlich anders. Eine Pressemitteilung vom 9. März 2022 definiert:

»Bibliothek als Ort der Demokratisierung und rassismuskritischer Bildungsarbeit. Die Mannheimer Stadtbibliothek ist Begegnungsraum und Ort für demokratische und rassismuskritische Erinnerungsarbeit. In einer themenspezifischen Führung durch die Zentralbibliothek im Stadthaus N1 in Kooperation mit dem Antidiskriminierungsbüro Mannheim e.V. am Donnerstag, 17. März, 16 bis 18 Uhr, werden etwa diskriminierungssensible Bibliotheksarbeit, Mediennutzung, Rassismus in klassischer und moderner Literatur beleuchtet. Auch die hausinterne Medienausstellung »Rassismus« ist eine Station und es werden Tipps zur Informationssuche zum Thema gegeben. Die Veranstaltung findet unter Beachtung der geltenden Hygienevorschriften der aktuellen Corona-Verordnung statt.«

Quelle: Mehr als nur Bücher

1Gisela Ewert, Walther Umstätter: Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung. Hiersemann, Stuttgart 1997, S. 10

Erinnerungskitsch zum 2.

In Mannheim entsteht ein Erinnerungs- und Würdigungsort für Mannheimer »Gastarbeiter*innen«, der zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Geschichten von »Gastarbeiter*innen« und ihren Familien einlädt.

»Wir freuen uns, dass endlich in Mannheim ein solcher Erinnerungsort für »Gastarbeiter*innen« und ihre Familien entsteht. Eine Anerkennung ihrer Lebensleistung aber auch das Eingestehen ihrer Leiden.« betont die Vorsitzende des Migrationsbeirates. »Das Denkmal ist der Anfang, diese Zeit aufzuarbeiten. Die »Gastarbeiter*innen« haben Mannheim mit aufgebaut und das sollte nie in Vergessenheit geraten.«

Quelle: Ein lebendiger Ort der Erinnerung

Es kamen in den 60ger Jahren »Gastarbeiter« keine »Gastarbeiter*innen«. Die Ehefrauen und Kinder blieben zu Hause und wurden nachgeholt. Sie wohnten anfangs in Baracken und dubiosen Sammelunterkünften; das ist heute mit den Osteuropäern, die in der Fleischindustrie arbeiten, nicht anders.

» … das Eingestehen ihrer Leiden« dieser wohlfeile Erinnerungskitsch verharmlost Zwangsarbeit.

Was ist mit denen, die im 17. Jahrhundert für Kurfürst Friedrich IV. Mannheim aufgebaut haben?