Tinnitus: Wenn das Gehirn seine eigene Melodie spielt

Lieber Max,

Jeden Morgen wache ich mit einem störenden Geräusch im Ohr auf: Tinnitus. Dieses Geräusch kann klingen, pfeifen, summen, brummen, zischen, knistern oder rauschen. Tinnitus ist ein unabschaltbares Ohrgeräusch. Dich betrifft das noch nicht so oft.

Es gibt zwei Arten von Tinnitus: den subjektiven Tinnitus, den nur der Betroffene selbst wahrnimmt, und den seltenen objektiven Tinnitus, der auch von anderen Personen gehört werden kann. Leider ist Tinnitus nicht heilbar, aber es gibt Möglichkeiten, damit umzugehen.

Die Neuroforschung hat herausgefunden, dass Tinnitus nicht im Ohr selbst entsteht, sondern durch eine Fehlfunktion von Nervenzellen im Gehirn. Es kommt zu einer gesteigerten Aktivierung und synchronisiertem Feuern der Nervenzellen in den beteiligten Hirnzentren, ohne dass eine tatsächliche Schallquelle vorhanden ist. Tinnitus ähnelt also Phantomwahrnehmungen und Phantomschmerzen. Es liegt eine Fehlfunktion im Gehirn vor, obwohl kein Reiz vorhanden ist, der dies auslösen würde. Obwohl Tinnitus meistens durch eine Hörschädigung verursacht wird, liegt die eigentliche Ursache im Gehirn.

Die Anordnung der Sinneszellen im Innenohr kann man sich wie eine Klaviertastatur vorstellen: Am einen Ende liegen die tiefen Töne, am anderen die hohen. Wenn die Sinneszellen geschädigt werden, verschlechtert sich das Hörvermögen in den betroffenen Frequenzbereichen. Schwächere Signale werden vom Innenohr an die Hörrinde weitergeleitet. Die Nervenzellen in der Hörrinde, die für die betroffenen Frequenzbereiche zuständig sind, erhalten nun schwache Signale. Das Gehirn passt sich an und organisiert die Verbindungen zwischen den betroffenen Nervenzellen neu. Wenn die Nervenzellen, die den Tinnitus auslösen, falsch miteinander verbunden sind, spricht man von subjektivem Tinnitus. Die Nervenzellen feuern dann alle gleichzeitig, was einem Ton im Ohr ähnelt.

Funktionsstörungen, Blockaden oder degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule, insbesondere an den ersten drei Wirbeln, können zu starken Muskelverspannungen führen, die Tinnitus verursachen oder verstärken. Auch bei mir und bei dir ist dies der Fall.

Kürzlich begann eine Freundin im Chat eine Diskussion über »musikalischen« Tinnitus. Sie erinnerte sich daran, dass sie das schon als Kind hatte. Neben dem »normalen« Tinnitus löst er nachts eine musikalische Version aus. Jedes Mal ist es ein anderes Lied. Sie liebt Musik und hört jede Art von Musik, daher hat sie schon alles gehört, von Klassik über 70er-Jahre-Country bis hin zu Rap. Manchmal ist es lauter und sie kann Wörter mit der Musik hören, manchmal sind es nur durcheinander geworfene Wörter, aber sie kennt die Melodie. Manchmal ist es auch nur instrumental. Sie erklärt dies mit dem Verlust bestimmter Frequenzen und dem Versuch des Gehirns, die fehlenden Klänge zu verstehen und mit ähnlichen Erinnerungen aufzufüllen. Sie kann nicht zählen, wie oft sie mitten in der Nacht aufgestanden ist und dachte, die Nachbarn würden laute Musik spielen. Die Nacht scheint die Zeit zu sein, in der sich unsere Gehirnradios wirklich einschalten!

Bei mir ist es meistens ein und derselbe Ton. Mit etwas Übung und Obertongesang kann ich ihn sogar intonieren. Musikalisch oder angenehm klingt das jedoch nicht. Es hört sich an, als würde ein kastrierter Schamane singen.

Ich hoffe, ich konnte dir einen kleinen Einblick in das Phänomen des Tinnitus geben. Manchmal wünsche ich mir einen »Tacitus« statt Tinnitus im Kopf; er würde still sein, nicht sprechen und keinen Laut von sich geben.

Beeindruckende Geste: Fremder zahlt für Einkauf

Lieber Max,

ich möchte direkt auf das Thema »Mut« eingehen, über das wir bereits gesprochen haben. Zivilcourage, also der Mut, sich für andere einzusetzen, wird oft positiv bewertet, solange sie die von der Mehrheit geteilten Normen unterstützt. Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass Mut eine objektive Größe ist, die fair und gleichmäßig verteilt wird. Nein, der Mut, sich für andere einzusetzen, hängt von den Vorurteilen und Vorstellungen ab, die in meinem Kopf existieren und darüber entscheiden, wer mehr oder weniger Mut verdient.

Am letzten Samstag hatte ich selbst eine solche Erfahrung gemacht. Nein, ich war nicht mutig. Es war jemand anders, der sich für mich eingesetzt und Mut bewiesen hat. Ich stand an der Kasse in einem Laden und wollte meinen Einkauf mit meiner Bankkarte am Kartenterminal bezahlen. Meine Hände waren durch das Radfahren über Kopfsteinpflaster so mitgenommen, dass ich die Karte nicht ruhig halten konnte. Der Scanner akzeptierte sie nicht, als ich sie darüber gezogen habe. Also habe ich die Karte in das Kartenterminal gesteckt. Doch auch das half nichts, da ich die Geheimzahl aufgrund meiner eingeschränkten Fingerkoordination nicht korrekt eingeben konnte. Nach drei Versuchen war es vorbei. Ich bot der Kassiererin an, Bargeld von zu Hause zu holen und dann zurückzukommen. Inzwischen hatte sich eine beträchtliche Schlange an der Kasse gebildet, auch an der Nachbarkasse. Ein Mann, der gerade bezahlt hatte, kam zu mir herüber und sagte: »Vergessen Sie es. Ich übernehme das und bezahle für Sie.« Und er sagte zur Kassiererin: »Stornieren Sie nicht. Ich übernehme die Kosten. Wie viel ist es überhaupt?«

Ich bedankte mich und war sehr überrascht. Ich wollte seinen Namen wissen und fragen, wie ich ihm das Geld zurückgeben kann. Doch er weigerte sich, mir seinen Namen zu nennen und sagte: »Wir haben das jetzt geklärt. Die Sache ist für uns beide erledigt.« Dann drehte er sich um und ging.

Es war eine völlig fremde Person, die in einer sehr unangenehmen Situation für mich eingesprungen ist. Das war für mich eine neue Erfahrung und ich war sehr beeindruckt und dankbar.