Das Syndrom ist die Theorie. Die Symptome sind die Praxis.

Lieber Max,

ich bin auf Alexander Romanowitsch Lurija gestoßen, einen Kollegen des russischen Psychologen Lev Vygotsky, auch bekannt als Lew Semjonowitsch Wygotski. Die beiden haben eng zusammengearbeitet. Wygotski hat Beiträge zur Theorie des Bewusstseins, zur Behindertenpädagogik, zum Verhältnis von Sprachentwicklung und Denken sowie zur allgemeinen Entwicklungspsychologie des Kindes geleistet. Lurija hat am Institut für Neurochirurgie in Moskau gearbeitet und begann dort, das Gebiet der Neuropsychologie zu erforschen.

Mit Lurija stoßen wir auf ein Problem, das auch dich betrifft: das Klippel-Feil-Syndrom. Lurija stellt der klassischen, defizitären Sichtweise von Syndromen als Ausfall oder Fehler eine neuropsychologische Theorie komplexer funktioneller Systeme entgegen. Dabei wird nicht angenommen, dass das Fehlen von Hirnfunktionen die Ursache für das Auftreten eines bestimmten Symptomkomplexes ist, sondern eine veränderte Form ihres Zusammenspiels. Dadurch wird es möglich, ein Syndrom nicht nur als Ausdruck eines Mangels, sondern auch als Ursprung von Überschüssen zu verstehen, wie der New Yorker Neuropsychologe Oliver Sacks in seinen Fallgeschichten zeigt.

Wenn wir den Faden weiterverfolgen, kommen wir zu dem Film »Zeit des Erwachens«, der auf Oliver Sacks‘ Fallgeschichten basiert. In diesem Film spielt Dexter Gordon, der Lieblingsmusiker deines Vaters, einen Patienten, der an der Europäischen Schlafkrankheit leidet.

Als du Dr. Bertold nach Möglichkeiten zur Behandlung des Klippel-Feil-Syndroms gefragt hast, antwortete er: »Das Syndrom ist die Theorie. Die Symptome sind die Praxis.« Erinnerst du dich noch? Für heute lasse ich es dabei, damit ich dich nicht überfordere.