[Montag, 06.04.2020] 4 Uhr. Fresse total ausgetrocknet. Migränitus. Migräne ganz leise. Tinnitus ganz laut, nur links. Ich schlafe auf der linken Seite, meistens. Soll gut sein für die Atmung. Es ist gut für die Katze, sie rollt sich lieber auf der linken Seite in meinen Arm.
Unruhige Gedankenblitze blenden. Die Bären im Bärenpark wurden in Ungarn geblendet, damit sie die Touristen nicht sehen und die besser Selfies mit ihnen machen konnten. Der Bärenpark ist geschlossen des Virus wegen. Die Besucher bleiben weg.
Für Irmi war ich Nacht für Nacht ihr Teddybär. Ich hoffte, sie wüchse aus dem Alter raus. Vergebens. Bevor ich abgewetzt war und mir ein Ohr fehlte, machte ich mich aus dem Staub.
Aus der Praxis meines Hausarztes folgende Mail:
… nach Rücksprache mit Herrn Dr. med. B., möchte ich Ihnen Folgendes mitteilen:
Zur Zeit werden wegen der Ansteckungsgefahr alle Routineuntersuchungen nicht durchgeführt. Patienten sollen nur in Akutfällen in die Praxen gehen, der Arzt-Patienten-Kontakt soll so gering wie möglich gehalten werden.
Bitte melden Sie sich, sobald die Pandemie überstanden ist!
Sowohl die Pneumokokken, als auch die Grippeschutzimpfungen sind wertvoll und wichtig, was allerdings zur Zeit an der Nicht-Lieferbarkeit der Impfstoffe scheitert.
[Dienstag, 07.04.2020] Heute wäre William Wordsworth 250ster Geburtstag. In der NZZ eine schöne Würdigung des Romantikers, der sich das Pathos verbat. 1972 waren wir im Lake District; es gibt ein Foto von mir vor dem Wordsworth Cottage in Patterdale.
Ein paar Zeilen von Dorothy Wordsworth, seiner Schwester.
Die Tage sind kalt, die Nächte lang,
Dorothy Wordsworth – The Cottager To Her Infant
Der Nordwind singt ein klagendes Lied;
Die Stille wieder auf meiner Brust;
Alle fröhlichen Dinge sind nun zur Ruhe gekommen;
Rette Dich, meine schöne Liebe !
(Mein erster Versuch als Übersetzer romantischer Lyrik.)
Was war die Wissenschaft? Ein hühnerbrüstiges Gebastel. Betrieben von Wichtigtuern in von Mutti rausgelegten Hemden, kleinen Männchen mit Brillen wie Glasbausteinen, die kaum bis zur Labortür gucken konnten und einem mit herablassender Fistelstimme Aufträge erteilten.
(Wolfgang Herrndorf, Sand S.64)
[Mittwoch, 08.04.2020] 2:30 Uhr Magensäure randaliert. Vollmond.
Traum: Sehr früh am Morgen. Es ist gerade hell geworden. Am Eingang zur Kunststraße vom Wasserturm aus blinken die Ampeln gelb. Kein Auto, kein Mensch weit und breit. Laufe auf der linken Straßenseite Richtung Kaufhof. Er ist abgesperrt. Links auf der Straße ein gepanzertes Polizeifahrzeug; rechts eines der Bundeswehr. Der Bürgersteig vor den Schaufenstern mit Tüchern verhängt, wie man sie von Unfällen her kennt um Blicke von Verletzten und Toten fernzuhalten. Als ich auf der Höhe des Parkhauses bin sehe ich einen großen schwarzen Bus drin stehen, an den Scheiben die Vorhänge zugezogen, daneben blockieren zwei schwarze Leichenfahrzeuge die Zufahrt. Zwei Gestalten kommen auf mich zugerannt und zerren mich in ein Kabuff. Ein Bürostuhl mit hoher Rückenlehne, ein Schreibtisch, drei Monitore mit dunklem Bildschirm. Die Kerle tragen Uniformen wie man sie von den Männern kennt, die im ehemaligen Gebäude der Bundesbank ihr Quartier aufgeschlagen haben und sind bewaffnet. Sie nesteln ihre Pistolen hervor und fordern mich auf, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Ich zögere. Der eine schaltet den rechten und den linken Monitor an. Auf dem linken ist ein Mann zu sehen, älterer Typ mit Glatze, stehend eingegraben im Sand bis zum Hals. Ein Bursche in gleicher Uniform wie die beiden steht daneben mit einem Spaten in der Hand. Auf dem rechten Monitor eine blonde Frau mit langen Haaren liegend eingegraben. Der Kopf ist frei, der linke Fuß ragt nackt aus dem Sand und ist im Winkel von etwa fünfundvierzig Grad auf einen Holzstuhl mit Lehne aufgelegt. Neben dem Stuhl ein uniformierter Typ mit Kettensäge. »Setzt Du Dich hin, ist alles in Ordnung. Wenn nicht, fangen wir mit dem Typen an. Wir hauen ihm mit dem Spaten so lange auf den Kopf bis er ganz im Sand verschwunden ist. Danach braucht die Frau wohl eine Prothese.« Meinte der Typ, der neben mir stand und mir seine Knarre in die Rippen drückte. Der andere schaltete die Monitore aus, packte mich, hob mich hoch. »Der hat knapp fünfzig Kilo«, sagte er und setzte mich auf den Stuhl, schnallte mir die Arme rechts und links an den Armstützen fest, schlang mir einen Lederriemen um die Brust und spannte mich an die Rückenlehne. Sein Kollege zog mir was über den Kopf und so zurecht, dass ich durch zwei Löcher für die Augen etwas sehen konnte. Dann schaltete er den mittleren Monitor ein. Ich sah mich mit einer Maske von Schwammkopf. Einer krempelte mir den linken Arm frei, der andere zog eine Spritze auf. »Ist nur Propofol, in spätestens zehn Minuten bist du wieder wach. Dosis geht nach Körpergewicht. Wir kennen uns aus«. Als ich wieder zu mir kam, wollte ich mich am Ohrläppchen ziehen, um zu sehen, ob ich wirklich wach war. Aber daran zog schon jemand. Ich schlug die Augen auf. Die Katze saß auf dem Kopfkissen und knabberte an meinem Ohr. O.K. Ich stehe auf, dann machen wir Frühstück.
Die Maske von den »Mannheimer Wichtel« ist gekommen, schwarz, passt. Ich sehe aus wie Zorro. Kann jetzt keinen mehr direkt anspucken auf der Straße. Meine FFP2 Masken mit Ventil hebe ich auf für den Ernstfall.
[Freitag, 10.04.2020] Nacht halbwegs vertretbar. Bett frisch bezogen. Die rechte Pfote spielt verrückt; ohne Orthese geht gar nichts mehr.
Traum: Andreas W. hatte sich neben seiner Galerie in Berlin in Mannheim ein zweites Standbein geschaffen und das Friedhofs – Café in Neckarau übernommen. Es heißt jetzt JA&D Café. Die Buchstaben stehen für Jazz, Art & Death. Wir nennen es einfach Jade. Es gibt Musik und Kunst, die etwas mit dem Tod zu tun hat. Mit befreundeten Musikern entwickelten wir Konzepte für Trauerfeiern und Beerdigungen. »Die Winterreise«, arrangiert für zwei Saxophone, Gitarre und Akkordeon, begleitet Trauergäste und den Sarg von der Trauerhalle zum offenen Grab. In gleicher Besetzung konnte man auch die »Kindertotenlieder« buchen; eher für Trauerfeiern ohne anschließende Grablegung gedacht. Für die Zeremonie am offenen Grab eignet sich »Kaddish« von Maurice Ravel für Violine und Schlagwerk aus Metall. Etwas Besonderes, allerdings noch in der Probenphase, »Der Traum ist aus« – Rio Reiser arrangiert für Tanpura, Krummhorn und Serpent. An diesem Morgen waren nur Andreas und ich im Café. Tische und Stühle hatten wir mit weißen Tüchern verhängt. Wir machten eine Ausleuchtungsprobe für die erste Ausstellung unter dem Titel »It‘s My Way«. An den Wänden hingen Bilder von regionalen Künstlern, mit denen sie zum Ausdruck brachten wie sie sich ihren eigenen Tod und die Beerdigung vorstellten. Draußen vorm Café standen zwei Streifenwagen einer vom Kommunalen Ordnungsdienst und einer von der Polizei. Ihre Insassen, jeweils ein Männlein und ein Weiblein, drückten sich die Nasen an den Fenstern des Cafés platt. Wir mussten das Café geschlossen halten, niemand durfte mehr rein. Die Musiker hockten in ihren Autos und warteten darauf, dass die Ordnungshüter verschwänden.
Die dachten aber nicht daran, sondern überwachten die Einhaltung der Verordnung des Kultusministeriums Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen bei Bestattungen vom 02.04.2020:
- Bis auf Weiteres finden keine Trauerfeiern in unseren Trauerhallen statt.
- Eine Abschiednahme für Angehörige direkt am Grab ist im Rahmen von Erd- und Urnenbestattungen sowie Totengebeten möglich mit nicht mehr als fünf teilnehmenden Personen sowie mit weiteren teilnehmenden Personen, die
1. in gerader Linie verwandt sind, wie beispielsweise Eltern, Großeltern, Kinder und Enkelkinder oder
2. in häuslicher Gemeinschaft miteinander leben
sowie deren Ehegatten, Lebenspartner*innen oder Partner*innen. Es gelten die allgemein verordneten Hygienevorschriften.
3. Geistliche bzw. Trauerredner*innen sind auf den teilnehmenden Personenkreis nicht anzurechnen. Bestatter und weitere Helfer sind ebenso nicht anzurechnen, wenn sie mit der Trauergemeinde nicht in Kontakt stehen. - Bitte beachten Sie, dass aus Gründen der Kontaktvermeidung, Bestatter und Trauergemeinde getrennt werden müssen. Daher verbringen wir den Sarg bzw. die Urne vor Erscheinen der Trauergemeinde in das Grab.
Unser schönes Konzept war für die Katz. Die Verordnung habe ich nicht geträumt; sie ist Realität.
[Sonntag, 12.04.2020] 3 Uhr Tinnitus Lärm links. Traum: Ich erstelle ein gefälschtes Personagramm von mir für den Verfassungsschutz. Die Katze geht mit ins Bad zum Pissen.
Traum in den Morgenstunden: »Turtel Rain«. Waltraud, Marlene, Mizzi und ich sitzen im Zeughaus im Foyer auf einer Bank, auf der sonst die Museumswärter sitzen. Es ist extrem voll, man kann kaum noch stehen. Die Leute dicht gedrängt Gläser und Häppchen in der Hand. Wir warten auf Jürgen, einen Tiertrainer und Artisten spezialisiert auf Schildkröten. Marlene ist die einzige, die ihn kennt. Ganz süß sähe er aus mit Locken wie Rainer Langhans. Sie entdeckt ihn im Getümmel nahe des Eingangs, stürzt sich auf ihn und schleppt ihn ab ins Freie. Jürgen ist wichtig. Für unser Projekt »Turtel Rain« brauchen wir eine Schildkröte. Eine Auftragsarbeit vom Kulturamt zum 90. Geburtstag von Jakob Rees, einem Mitglied des Opernensembles vom Nationaltheater. Es sollte eine Hommage an seine Paraderolle den Adam aus dem »Vogelhändler« von Carl Zeller werden. Ein Potpourri bekannter Melodien war vorgesehen und Meister Hora mit seiner Schildkröte Kassiopeia aus Michael Endes »Momo« sollte etwas für die Kinder beisteuern. Als Marlene und Jürgen nach einer gefühlten Ewigkeit nicht wieder auftauchen, wird Waltraud wütend und steht auf. »Ich gehe jetzt, das wird eh nichts. Eine Schnapsidee der Kulturamtstussi um an das Erbe vom Rees zu kommen.« »Und was wird jetzt aus meiner Christel? – Ich brauch doch das Geld!«, jammert Mizzi, hängt sich an mich und beginnt zu flennen. – Davon bin ich aufgewacht.
Nachmittag: Lesen fällt mir schwer. Die Konzentration ist weg. Ich kann das Buch nicht schmerzfrei halten. Der rechte Arm tobt von der Schulter bis in die Finger.