Das Klippel-Feil-Syndrom ist keine Krankheit und damit auch nicht heilbar. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Haltung, mit der die davon Betroffenen durchs Leben gehen. Es bleibt in vielen Fällen lange unerkannt und unbekannt. Erhält man die Diagnose im Laufe seines Lebens zu einem sehr späten Zeitpunkt, muss man sein bis dahin normales Leben völlig neu ausrichten und darauf einstellen.
Vor ein paar Tagen entdeckte ich in einem Ratgeber des »Klippel-Feil-Syndrom e.V.« einen »Reflexionsbogen«1 zur Selbsteinschätzung, ob man davon betroffen ist. Ich halte nichts von Selbstdiagnosen, wenn sie nicht überprüft werden; aber zur groben Orientierung taugt der Bogen.
1. Wurden bei Ihnen Blockwirbel diagnostiziert, welche seit Geburt vorhanden sind.? – JA
2. Haben Sie eine komplette Fusionierung der Halswirbelsäule? (C1-C7) – NEIN
3. Haben Sie eine Teilfusionierung der HWS? (zwei oder mehr Wirbel) – JA
4. Leiden Sie an einer oder mehreren Begleiterkrankungen?
Lungenerkrankung? – JA
Schwerhörigkeit? – JA
5. Leiden Sie an chronischen Schmerzen? – JA
Es gibt weitere Symptome, die auf KFS (Klippel-Feil-Syndrom) hinweisen; davon später.
Ich beklage keine Odyssee bis zur Erkenntnis von KFS, sondern setze einfach ein paar Markierungspunkte:
[1] Als Kind hustete ich mir die Seele aus dem Leib, so erzählte man es mir. Ich erinnere mich an die Wohnung in der Bienenstraße in Heidelberg. Nächte stand meine Tante mit mir auf dem Arm am geöffneten Fenster. Wir schauten den kleinen Gaisberg hinauf, Molkenkur, Schloss, Königstuhl. Sie klopfte mir auf den Rücken und erzählte Geschichten bis ich soweit wieder Luft bekam, dass sie mich ins Bett zurücklegen konnte. Asthmatische Bronchitis sagten die Ärzte, das wächst sich aus. Ich war ungefähr fünf Jahre alt, wohnte inzwischen mit meinen Eltern in Mannheim, ausgewachsen hatte sich gar nichts; es läge an der miserablen Mannheimer Luft. Für fast ein Jahr kam ich nach Pontresina ins Kinderheim Kober. Es war ein privates Kinderheim, meine Eltern mussten für meinen Aufenthalt bezahlen; sie arbeiteten beide in der Gastronomie bei der Bundesbahn. Heimaufenthalte mit Beteiligung der Krankenkasse folgten erst später.
[2] Ich war etwas kleiner als die anderen Kinder in meinem Alter und hatte einen etwas kürzeren Hals. Das machte mir nie etwas aus und macht mir auch heute nichts aus. Größenmäßig befinde ich mich auf der Höhe von Gregor Gysi und Heinrich Lummer; Parteivorsitzender oder Innensenator wollte ich nie werden.
[3] Meine Schwerhörigkeit belastete meine Umgebung lange Zeit stärker als mich selbst; ich kam damit klar, ich kannte nichts anderes. An den Zeitpunkt, an dem HNO Ärzte begannen, sich mit mir zu beschäftigen, erinnere ich mich nicht. Mit meiner Mutter ging es regelmäßig in die HNO Abteilung des Theresien Krankenhauses zum »Kuckuck« machen. Ich musste mir ein Nasenloch zu halten, der Doktor nahm einen Gummiballen mit einem Aufsatz, den er mir in das freie Nasenloch steckte. Während er auf den Ballen drückte und mir Luft in das Nasenloch blies, musste ich »Kuckuck« schreien. Dann kam der »Kuckuck« in das andere Nasenloch. Meine Ohren gingen irgendwie auf und alles war sehr laut. Nach ein paar Stunden war der »Kuckuck« wieder ausgeflogen und die Lautstärke für mich normal.
Während der Schulzeit besuchte ich zeitweise den Förderunterricht für Hörgeschädigte in der Uhland – Schule. Die haben mich allerdings nicht behalten; so taub war ich nun doch nicht.
[4] Wirbelsäule – Recherche anhand von Dokumenten:
4.2.1969 Kreiswehrersatzamt Mannheim: Sie sind am 4.2.69 gemustert worden. Die Entscheidung wird ausgesetzt. Sie werden gebeten, sich sofort zur fachärztlichen Untersuchung einzufinden.
11.02.1969 Tauglichkeitsgrad U = dauernd untauglich. Wirbelsäulenveränderung. Oberregierungsmedizinalrat Dr. Nöllmayer. Eintrag im Wehrpass: Der Wehrpflichtige wird ausgemustert und unterliegt nicht der Wehrüberwachung. Koller – Oberregierungsrat.
Daraus folgt: Mit 19 Jahren habe ich von Oberregierungsmedizinalrat Dr. Nöllmayer zum ersten Mal im Leben von der Anomalie meiner Wirbelsäule erfahren. So unglücklich war ich darüber allerdings gar nicht. Um meinen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer brauchte ich mich nicht mehr zu kümmern. Von KFS war nicht die Rede.
[5] Ich hasste den Turnunterricht in der Schule. Bodenturnen, Barren, Reck, bei allem, bei dem man die rechte Hand und den rechten Arm brauchte, hatte ich Schwierigkeiten. Sehr oft trug ich damals schon rechts eine Gelenkstütze aus Leder. Später diagnostizierte ein Arzt »Tennisarm«, Tennis habe ich nie gespielt ab zu zu mal Federball. Das konnte es nicht sein. Schwimmen ging auch nicht, war sogar im Schwimmverein. Zu trainieren versuchte mich Hans F., mehrfacher Halter von Europa- und Weltrekorden, Gewinner einer Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in München, vergeblich. Im rechte Arm hatte ich einfach keine Kraft; ich kann heute noch nicht schwimmen.
Längere Zeit an der Schreibmaschine war und ist anstrengend, ich absolvierte eine Buchhändlerlehre im Wissenschaftsbuchhandel und musste Rechnungen für Institutsbibliotheken schreiben. Später am Computer diagnostiziert man die Schmerzen in Hand und Arm als »Mausarm«. Ursprünglich wollte ich Buchdrucker werden, aber Druckplatten schleppen war auf Dauer nichts für mich.
Literatur & Quellen:
1Klippel-Feil-Syndrom e.V (Hrsg.): Mitten im Leben – und doch Anders, 1. Auflage Aufl., Halle 2021, S. 53.
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