Oktober 2021

Oktober 2021

Denken ist Widerstand

[1] Mittwoch, 13.10.2021

»Wir sind alle deutsche Juden« 1 Film von Daniel Cohn-Bendit und Niko Apel angeschaut; er bestätigt mich in der Erkenntnis, dass ich sehr häufig jüdisch denke – ohne Jude zu sein. Zu müde, um ausführlicher zu werden.

[2] Donnerstag, 14.10.2021

»Wunderschöne Träume, aber ich war zu faul sie aufzuschreiben, und jetzt habe ich sie vergessen.« 2 So geht es mir sehr oft auch.

Jüdisches Denken und Empfinden erlaubt mir frei zu sein. Christen und Muslime sind für mich abtrünnige Sektierer, die die Geduld verloren haben, auf den Messias zu warten wie Wladimir und Estragon auf Godot warten. Der Glaube an das Paradies und die Auferstehung sind abwegige Versuche, die Endlichkeit des Lebens zu verdrängen.

Denken bedeutet nicht urteilen. Denken heißt erkennen, verstehen und einordnen

Man hat nicht einen Körper, sondern man ist der eigene Körper.

[3] Freitag, 15.10.2021

»I’m sorry for your loss« – »es tut mir leid, dass Du jemanden verloren hast.« Gefällt mir besser als »mein aufrichtiges Beileid.«

Der Körper wird alt, der Geist aber ist klar. Wenn ich aber sehe, was das Altern mit meinem Körper anstellt, schrumpft diese neugewonnene Selbstsicherheit. Aus dem einst abstrakten Gedanken des Älterwerdens ist Wirklichkeit geworden.

Louise Brown, 1975 in London geboren, ist Journalistin und Trauerrednerin. Vor Jahren hatte ein Trauerredner auf Aufnahme in der KSK Künstlersozialkasse geklagt, weil Trauerredner eine ähnliche Arbeit leisten wie Journalisten. Dieser Meinung bin ich nach meinen Erfahrungen nach ganz und gar nicht. Er hat aber Recht bekommen. Ein paar Jahre später war Schluss damit und sie flogen wieder raus. Ich bin voreingenommen gegen Trauerredner. Das Buch von Brown »Was bleibt, wenn wir sterben« hinterlässt eine zwiespältigen Eindruck bei mir. Es gibt gute, sogar hervorragende Stellen, aber vieles ist banal.

[4] Sonntag, 17. Oktober 2021

In Mannheim gibt es anscheinend kein »Death Café« warum? – Soll ich mal das »Frida Kahlo Café« probieren, mit persischem Tee und Apfelkuchen mit Eis? Tee und Kuchen sind wichtig; sonst kommt womöglich keine Gesprächsatmosphäre auf.

[5] Montag, 18. Oktober 2021

Am Anfang einer Reportage steht meist eine Frage, und sie lautet oft: warum? Danach gibt es zwei Herangehensweisen. Entweder ist das «Warum» tatsächlich eine Frage, die man mit der Recherche zu beantworten versucht. Oder es ist ein rein rhetorisches «Warum». Dann besteht die Recherche daraus, die bereits feststehende Antwort durch passende Gesprächspartner und Szenen zu bestätigen. Das ist dann Thesenjournalismus. (Barbara Klingbacher NZZ-Folio Redaktion)

[…] Wir wissen, dass kein beschriebenes Blatt Papier ohne Rückseite ist, auf die sich etwas anderes schreiben liesse, und dass zu jeder Stimme eine Gegenstimme laut werden kann und laut werden muss; nur so kommen echte Entscheide zustande.

Wenn nun die Medien immer diese andere Seite nicht drucken und wenn jede Gegenstimme gelöscht wird, so zerfällt die Gesellschaft in Foren und Zirkel, wo die Eingeweihten und Einverstandenen unter sich sind. Die Gesellschaft als Ganzes trifft sich vielleicht nur noch zu Strassenkämpfen. Was Karl Jaspers 1966 über Deutschland geschrieben hat, ist zur Prophezeiung geworden.

(Stefan Stirnemann NZZ 17.10.2021)

Hendrik Streeck: »Wir erleben nicht nur eine Pandemie, sondern auch eine Infodemie, und die bringt auch manch schädliche Wirkungen hervor. Die Medien buhlen um Aufmerksamkeit, und hier spielt naturgemäß eine Logik der Übertreibung und Eskalation, angereichert mit Falsch- und Halbwissen.«

»Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.«

(Theodor W. Adorno: »Resignation« (1969) in Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 10,2 »Kulturkritik und Gesellschaft II« Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S.799)

[6] Donnerstag, 21.10.2021

Um 3 Uhr ist der angenehmere Teil der Nacht vorbei; es klippelt und feilt von der Schulter bis in die Fingerspitzen. Das Knie fühlt sich an als stände ein spitzer Knochen heraus. Katzen füttern und Frühstück richten am Morgen machen wir mit links; die rechte Seite ist nur passiv zu gebrauchen.

[7] Montag, 25.10.2021

In eine amerikanische Facebook Gruppe zum Thema KFS eingeklinkt. Erste Kontakte mit einer Italienerin aus Triest. Thema: Halswirbel, Zwerchfell, Magenklappe, Reflux, Speiseröhren- und Kehlkopf Entzündungen, Schluckbeschwerden, Husten. Reaktionen aus Hawaii gibt’s auch.

Update: Donnerstag, 28.10.2021 – Es ist irritierend, wie unbedarft Leute in einer öffentlichen Facebook – Gruppe mit ihren sensibelsten Gesundheitsdaten hantieren.

[8] Sonntag, 31.10.2021

»Ich habe mich gefragt, ob es jemand gibt, der in der Lage war, das Auftreten von Schmerzen jedes Jahr zu minimieren? Kann man ohne Schmerzmittel und Operationen das »Klippel-Feil-Syndrom« überleben?«

Eine Frau aus Indien will dies wissen. Wüsste ich auch gerne. Zur Zeit ohne Schmerzmittel, ohne Operation aber nicht ohne Schmerzen.

1https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/wir-sind-alle-deutsche-juden-100.html

2Walter Kempowski: Sirius – Eine Art Tagebuch, München 1990, S. 471 Eintrag 6. Oktober 1983