Klippel und Feil(e) – Tl.1

Ich kämpfe mit Klippel und Feil(e).

Beim Klippel-Feil-Syndrom kommt es zur Verschmelzung (Synostose) von zwei oder mehr Halswirbeln, gelegentlich auch der gesamten Halswirbelsäule (HWS). Zugrunde liegt eine Störung der Segmentierung der zervikalen Somiten während der etwa 3. bis 8. Woche der Embryonalentwicklung. Es ist benannt nach Maurice Klippel und André Feil, die es um 1912 erforschten und beschrieben.

Postcard dated 1908 showing a panoramic view of the Hôpital Tenon, Paris, where the patient in the first case described by Klippel and Feil was admitted.
Quelle: https://www.biusante.parisdescartes.fr/histmed/image?CISA0951

Wer waren die beiden?

Nähere Einzelheiten über das persönliche Leben von André Feil zu finden ist nicht einfach. Er wurde 1884 in Paris geboren und starb unbestätigten Informationen zufolge 1955. Er studierte zunächst in Tours und absolvierte ein Praktikum in der chirurgischen Klinik unter Professor Pierre Delbert, einem Militärchirurgen Weiter studierte er bei Professor Henri Georges Eugene Roger, dem Dekan der medizinischen Fakultät, in der Abteilung für experimentelle Pathologie und vergleichende Physiologie. Roger war auch Feils Doktorvater, was erklären mag, warum Feils Dissertation so umfassende pathologische Beschreibungen und Diskussionen über die möglichen Mechanismen der abnormen Entwicklung enthält. Von 1909 bis 1910 setzte Feil sein externes Praktikum bei den Professeurs Agrégés Sicard und Mauritius Loeper, einem Pathologen, fort.

Nach seiner Famulatur war Feil 3 Jahre lang als Assistenzarzt tätig. Sein Mentor im ersten Jahr war Professor Paul Riche, ein Spezialist für Nervenkrankheiten, Hysterie und Hypnotismus. Von 1912 bis 1913 arbeitete Feil im Hôpital Hérold im Zentrum von Paris. In dieser Zeit begann Feil eine enge Zusammenarbeit mit Klippel, der ihn in besonderer Weise inspiriert und gefördert zu haben scheint.

Painting by Luc-Olivier Merson (1846–1920):
»Eine Träne für einen Wassertropfen«
Esmeralda und Quasimodo

Feil hatte ein großes Interesse an der Beschreibung von angeborenen Anomalien. Trotz des relativen Mangels an biographischen Informationen über ihn gingen seine Beiträge zu den Bereichen Wirbelsäulenerkrankungen und Teratologie weit über die Wissenschaft hinaus und spielten eine wesentliche Rolle bei der Veränderung falscher Vorstellungen, die Patienten mit Entstellungen, Defekten, Missbildungen und sogenannten monströsen Geburten umgaben. Insbesondere Feils Doktorarbeit über Anomalien der Halswirbelsäule aus dem Jahr 1919 war eine entscheidende Publikation, die die lange vorherrschende Theorie und Meinung widerlegte, dass menschliche »Monstrositäten«, Anomalien, Entwicklungsstörungen und veränderte angeborene Körperlichkeit eine Folge sündigen Verhaltens oder eines Rückfalls in einen primitiven Zustand seien. Tatsächlich war seine Dissertation über eine Wirbelsäulendeformität, in deren Mittelpunkt sein Patient L. Joseph stand, wegweisend für eine neue Sicht des Patienten als nichts weniger als vollwertiger Mensch, unabhängig von seiner Körperlichkeit oder seinem Aussehen. Um Feils Arbeit voll zu würdigen, ist es notwendig, sie im Kontext eines Überblicks über die philosophische Geschichte der menschlichen Deformität und Monstrosität bis zum frühen 20. Jhdt. zu sehen.

* * *

Maurice Klippel wurde 1858 in Mulhouse, Frankreich, in eine wohlhabende Familie geboren. Er promovierte 1889 zum Doktor der Medizin; 1884 war er Assistenzarzt am Hospitaux de Paris und 1886 Assistenzarzt an der Salpêtrière, als Joseph Babinski Chefarzt war. Zweifellos hatte Klippel also Kontakt zu Jean-Martin Charcot, obwohl er nicht ausdrücklich als einer der direkten neurologischen Nachkommen Charcots aufgeführt ist. Klippel war 1 Jahr lang Chefarzt im Hospice Debrousse. Im Jahr 1902 wurde er Direktor der allgemeinmedizinischen Abteilung des Hôpital Tenon, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1924 blieb.

Er veröffentlichte Artikel zu einem breiten Spektrum medizinischer Themen, wobei seine bekanntesten schriftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie lagen, aber er schrieb auch über nicht-wissenschaftliche Themen. Er starb 1942 in Vevey, Frankreich.

Ganz im Sinne von Charcot interessierte sich Klippel für die Neurologie und Psychiatrie. Er wurde als unvergleichlicher Kliniker beschrieben, der auf einem klinischen Eindruck und einer genauen Anamnese und Untersuchung bestand, da er glaubte, dass »Krankheiten den Organismus in seiner Gesamtheit betreffen und dass sich die pathologischen Veränderungen nicht auf ein Organ beschränken«. Er lehrte seine Schüler, Arzt des ganzen Patienten zu werden und sich um ihn zu kümmern.

Über das Verhältnis zwischen Maurice Klippel und seinem Schüler André Feil ist wenig bekannt. Feil schrieb jedoch in der Ausgabe vom Januar 1913 in dem humoristischen Journal »Le Rictus« eine aufschlussreiche Klippel – Biografie:

Pages from the January 1913 issue of the humor journal Le Rictus, with a biography of Dr. Maurice Klippel written by A.F.

Wenn Sie zufällig auf den Höhen des Père-La-Chaise vorbeikommen und gegen 10 Uhr den Gambetta-Platz überqueren, werden Sie einen kleinen Mann aus der U-Bahn-Station kommen und in Richtung Hospital Tenon gehen sehen. Sie werden in jeder seiner Bewegungen, wie auch in seiner allgemeinen Erscheinung, den diskreten und wissenschaftlichen Menschen beobachten, von dem unsere Ältesten immer sprachen. Augenblicke später werden Sie unter den überdachten Gängen des Krankenhauses denselben Mann sehen. Er wird einen langen, weißen Laborkittel tragen und sein stacheliges Haar mit einer schwarzen, mit einem violetten Streifen verzierten Mütze bedeckt haben. Unter seinen dünnen Augenbrauen werden Sie lebhafte, intelligente Augen finden. Aus seinem spitzbübischen Mund, über dem ein sich ständig bewegender Schnurrbart sitzt, kommen langsam Witze, Absurditäten, Aphorismen, griechische und lateinische Zitate sowie medizinische Theorien.

Jedes seiner Epigramme ist konkret und aussagekräftig, tut aber nie weh. Jedes seiner Worte ist eine sinnvolle Belehrung. Seine Gelehrsamkeit, von unendlicher Vielfalt, hat immer die Bewunderung derer erhalten, die ihn jeden Morgen begleitet haben. Sie werden nicht lange brauchen, um zu verstehen, dass er mit liebevollem Respekt umgeben ist.

Sie haben Doktor Maurice Klippel bereits erkannt. Geboren 1858 im annektierten Land, absolvierte er ein brillantes Medizinstudium in Paris, danach seine Assistenzzeit, dann eine Stelle als Leiter des Labors der Medizinischen Schule und schließlich als Arzt der Krankenhäuser.

Er war Gründungsmitglied der Gesellschaft für Neurologie, deren Präsident er war, sowie der Gesellschaft für Psychiatrie. Im Jahr 1910 war er Präsident des Kongresses für Psychiatrie und Neurologie in Brüssel. Im letzten Jahr diente er als Präsident der medizinisch-psychologischen Gesellschaft. Er blieb dem Tenon – Hospital treu, wo er trotz mehrfacher Angebote prominenterer Kliniken einen Zufluchtsort fernab des hektischen Lebens im Zentrum finden konnte. Seine liebevolle, zurückhaltende und sensible Persönlichkeit, seine forscherische Finesse und Geduld sowie seine hohe medizinische Integrität fügen sich perfekt in dieses diskrete Umfeld ein.

Seine unzähligen Arbeiten tragen den Stempel der Originalität.

Beginnen wir mit seiner These über Amyotrophien im Allgemeinen, chronische Krankheiten, in der er »die Reaktion der neuro-muskulären Schwäche« beschreibt, indem er das Vorhandensein eines pathologischen generalisierten Muskelödems mit Hyper-Reflexibilität als Zeichen einer durch Toxine verursachten Unterernährung bei Tuberkulose- und Krebspatienten beschreibt, etc…. Tachykardie kann manchmal mit diesen Symptomen verbunden sein.

Er war der erste, der die toxischen neurologischen Veränderungen bei Krebspatienten, die Nervenläsionen bei Phlegmatie und Ödemen, die Veränderungen der Rückenmarkshörner bei verschiedenen Formen von Arthritis und chronischem Rheuma sowie die Radikulopathien bei bestimmten Arten von Angina beschrieben hat.

Indem er die bei der Gürtelrose gefundenen Symptome der Gesichtslähmung zusammentrug, zeigte er die Zusammenhänge mit den Herpes-Zoster-Ausbrüchen.

Wir verdanken ihm die Erstbeschreibung des osteohypertrophen varikösen Nävus. Er entwickelte eine Klassifikation der Formen der Pankreassklerose, nachdem er deren Vorhandensein in Fällen von Laennec-Zirrhose nachgewiesen hatte.

Er untersuchte die syphilitische Sialorrhoe, die bei Läsionen der Ohrspeicheldrüse auftrat. Er schrieb eine Denkschrift über seine erste Beschreibung der Geschmacks- und Geruchsstörungen, die bei Patienten mit Syphilis gefunden wurden.

Er schuf eine anatomische Klassifikation der Demenz, nachdem er festgestellt hatte, dass alle Demenzen aus der Zerstörung von Dendriten und Axonen resultieren, was die Isolierung von kortikalen Neuronen verursacht. Er unterschied die vaskulo-konjunktivale Demenz von der neuro-epithelialen Demenz, wobei letztere die alten gestörten Geisteszustände repräsentiert.

Er ist auch der erste, der das hepatische Delirium beschrieb und es mit der Pathogenese vieler alkoholischer Delirien in Verbindung brachte. Er war in der Lage zu berücksichtigen, dass nur die akute Intoxikation eine direkte Wirkung des Alkohols auf das zentrale Nervensystem ist. Das Delirium tremens und alle anderen Arten von Delirien müssen unter infektiöse oder autotoxische Delirien eingeordnet werden, die durch bereits bestehende, durch Alkohol verursachte Läsionen in Leber, Niere usw…. entstehen.

Seine Arbeit, die noch umfangreicher ist als beschrieben, ist sehr vielfältig und reicht von klinischen bis zu anatomischen oder experimentellen Arbeiten. Weit davon entfernt, ausschließlich auf die Neurologie gerichtet zu sein, war seine Arbeit oft auf die Pathologie verschiedener Organe gerichtet. Dr. Klippel lehnte es ab, sich nur auf Krankheiten des zentralen Nervensystems zu spezialisieren. Aufgrund seines generalisierten und umfangreichen Studiums der Medizin kann man ihn mit Fug und Recht einen Pathologen nennen. Er hörte nie auf, die Trias aus klinischer Beobachtung, anatomischer Analyse und pathologischem Mechanismus einzubeziehen.

Wenn er seine Visiten beendet und seine Medizinstudenten unterrichtet hat, kehrt Dr. Klippel mit seiner üblichen Einfachheit in sein Büro zurück. Dort meditiert er, liest, schreibt und kommentiert. Er ist dort, zu Hause, in einer diskreten Umgebung, die ihn an die vertrauten Details seiner geliebten Kindheitsstadt Mulhouse erinnert. Jedes Jahr, in den Ferien, kehrt er in sein Geburtsland zurück, in die beruhigenden Hügel des Elsass, wo er sich von der Pariser Arbeit erholt.

Literatur und Quellen:
Monsters and the case of L. Joseph: André Feil’s thesis on the origin of the Klippel-Feil syndrome and a social transformation of medicine
https://doi.org/10.3171/2016.3.FOCUS15488

❱ ausführliche Liste mit Literatur und Quellen

Hegel lesen – ein Selbstversuch

»Hegels Logik lesen Ein Selbstversuch« von Patrick Eiden-Offe habe ich mir sofort nach seinem Erscheinen gekauft und beschlossen auszuprobieren, ob ich mich diesem Selbstversuch anschließen kann. Schon im August des letzten Jahres zu Hegels 250sten Geburtstag begann ich mein Verhältnis zu Hegel erneut zu reflektieren. Eiden-Offes Ansatz, Hegels Logik als Trostbuch der modernen Seele zu begreifen, fasziniert mich.

Eiden-Offe, Patrick: „Hegels Logik lesen. ein Selbstversuch“. Berlin 2021

Hegel – Die gebrochene Mitte

Meinen Zugang zu Hegel fand ich etwa zu der Zeit seines zweihundertsten Geburtstages in Heidelberg im »Sozialistischen Patientenkollektiv« SPK. Im Hegel – Arbeitskreis lasen wir »Phänomenologie des Geistes«, »Wissenschaft der Logik« Teil eins und zwei. Wir lasen und diskutierten gemeinsam ein- oder zweimal die Woche in der Gruppe und jeder für sich allein.

Ich wurde zum »Hegel – Junkie«; ich las im Bus, in der Straßenbahn, im Zug, an den Haltestellen und im Wartezimmer beim Arzt.

»Das Gesetz dagegen, welches dem Gesetze des Herzens gegenübersteht, ist vom Herzen getrennt und frei für sich. Die Menschheit, die ihm angehört, lebt nicht in der beglückenden Einheit des Gesetzes mit dem Herzen, sondern entweder in grausamer Trennung und Leiden oder wenigstens in der Entbehrung des Genusses seiner selbst bei der Befolgung des Gesetzes und in dem Mangel des Bewusstseins der eigenen Vortrefflichkeit bei der Überschreitung desselben.«

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. In 20 Bden. Auf d. Grundlage d. Werke von 1832 – 1845 neu ed. Ausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1970 (Theoriewerkausgabe), Bd. 3 Phänomenologie des Geistes S. 276.

Wolfgang Huber empfahl mir den Hegel – Arbeitskreis. Wolfgang war für mich am Anfang behandelnder Arzt, dann Freund und später auch Gefährte. Das Wort Genosse möchte ich nicht mehr verwenden; ist es heute in den chinesischen Metropolen vorwiegend als Begrüßung unter Schwulen gebräuchlich. Zu keinem Zeitpunkt war ich von Huber abhängig, weder emotional noch ideologisch. Wolfgang war ein Baustein meiner Emanzipation vom Elternhaus. Mit Huber und Hegel lernte ich in Widersprüchen zu denken und mit Widersprüchen zu leben.

»Im Kampfe des Gemüts ist das einzelne Bewusstseins nur als musikalisches, abstraktes Moment; in der Arbeit und dem Genuss, als der Realisierung dieses wesenlosen Seins, kann es unmittelbar sich vergessen, und die bewusste Eigenheit in dieser Wirklichkeit wird durch das dankende Anerkennen niedergeschlagen. Dieses Niederschlagen ist aber in Wahrheit eine Rückkehr des Bewusstseins in sich selbst, und zwar in sich als die ihm wahrhafte Wirklichkeit«

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. In 20 Bden. Auf d. Grundlage d. Werke von 1832 – 1845 neu ed. Ausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1970 (Theoriewerkausgabe), Bd. 3 Phänomenologie des Geistes S. 173

Wolfgang riet mir zur ergänzenden Lektüre »Hegel. Die gebrochene Mitte« von Jan van der Meulen. Mit diesem Text habilitierte sich Jan van der Meulen 1958 bei Hans-Georg Gadamer an der Philosophischen Fakultät in Heidelberg, an der er nun selbst lehrte. Huber wollte bei Van der Meulen promovieren über »Den Begriff der Grenze bei Hegel«. Jan van der Meulen nahm in der Schlussphase seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg jedoch keine Doktoranden mehr an.

Jan van der Meulen galt als »Althegelianer« oder »Rechtshegelianer«. Otto Pöggeler, promovierte selbst mit einer Arbeit über »Hegels Kritik der Romantik« und habilitierte sich bei Gadamer mit »Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes«. In seinen Erinnerungen schreibt er über Jan van der Meulen:

»Jan van der Meulen, ein Holländer, hatte im Krieg bei Heidegger studiert und wollte nach dem Krieg nach Holland zurückkehren. An der Grenze sagten die Zollbeamten: es ist alles in Ordnung, nur die Bücher – es waren solche von und über Hegel und Heidegger – die dürfen sie nicht mitnehmen. Van der Meulen hat sich für Hegel und Heidegger und gegen Holland entschieden. Er ist mit seinen Büchern zurückgefahren und hat sich dann bei Gadamer über Hegel habilitiert. Er wurde in Wiesbaden Psychiater und konnte eigentlich davon ganz gut leben, aber sein Ehrgeiz ging dahin, in Heidelberg am Philosophischen Seminar seine Philosophie vorzutragen. Nun machte er den Fehler, die Konfrontation mit den Studenten zu suchen. Er kündigte Vorlesungen mit dem Thema »Idealismus und Materialismus« an, wobei er den Idealismus zu verteidigen beabsichtigte. Die Studenten ihrerseits nahmen diese Konfrontation an: Während er las, brüllten sie – man konnte kein Wort verstehen. Das ging ein ganzes Semester lang! Die zweite Vorlesung ging dann über Sexualität. Die sexuelle Revolution war damals ja noch wichtiger als die materielle. Da wurde es noch schlimmer. Van der Meulen konnte das nicht ertragen und hat sich selbst getötet: Er ist mit seinem Auto an den Rhein gefahren und hat sich ertränkt. Wir haben das damals alle nicht verstanden.«

Quelle: (https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=2945&n=2&y=1&c=0)

DER SPIEGEL schreibt in der Ausgabe 1/1970 einen Nachruf:

Bewunderung für deutsche Art und deutsches Denken, für Hegel und Heidegger trieb den jungen Holländer Jan van der Meulen in der Nazizeit nach Deutschland. Und von der deutschen Bundestagswahl 1969 erhoffte er wieder einen Ruck nach rechts.

Denn »wenn die SPD an die Regierung kommt«, so klagte im Sommer der 52jährige, inzwischen Nervenarzt in Wiesbaden und Philosophie-Professor in Heidelberg, »dann gehe ich weg aus Deutschland«.

Einen Tag nach dem Bundes-Wahlgang ging der Professor in den Rhein. Dicht beim Loreleyfelsen, unweit von St. Goarshausen, fanden Polizeibeamte am Morgen des 30. September van der Meulens Wagen; die Leiche wurde fünfzehn Kilometer flußabwärts aus dem deutschen Strom gezogen.

Den zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen Wahlausgang und Freitod diskutierten auch van der Meulens Kollegen und Kommilitonen am Heidelberger Philosophischen Seminar. Doch zehn Wochen später war sich Heidelbergs Universitätsoberster, Rektor Werner Conze, darin sicher: Am Freitod des rechten Professors seien linke Studenten schuld.

Zwar hatte der Verstorbene letztwillig verfügt, die Universität möge »den üblichen Nachruf unterlassen«. Dennoch machte Magnifizenz Conze Mitte Dezember plötzlich offiziell kund, van der Meulen habe »nicht verwinden können«, daß Studenten seine Vorlesung behindert hätten, und sich dadurch »in seinem Recht der freien Lehre … zutiefst verletzt gefühlt«.

Noch deutlicher schrieb es van der Meulens Heidelberger Habilitationsvater, Philosophie-Professor Hans Georg Gadamer, in den beiden örtlichen Zeitungen: Den Hegelianer aus Holland, »bewußter Träger einer deutschen geistigen Tradition«, habe es »tief betroffen«, daß er »Zielscheibe gelenkter studentischer Angriffe« gewesen sei.

Gegen die Version freilich, daß van der Meulen durch gezielten studentischen Terror in den Tod getrieben worden sei, spricht vieles. Der Philosoph, dessen »Seele leibhaft hegelisch war« (Professor Gadamer über Professor van der Meulen), hatte auch private Probleme: »Gelegentlich litt er unter Depressionen und Resignation. Vielleicht fehlte ihm auch eine Frau«, erinnern sich engste Verwandte,

DER SPIEGEL Ausgabe 1/1970
AStA Info 102 9.1.1970

Ich dokumentiere das so deutlich, weil es die Atmosphäre der Zeit beschreibt, in der ich mit der Lektüre von Hegel begann, die in Zeiten von »Cancel Culture« nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Die Vorlesungen von Werner Conze besuchte ich jeden Donnerstag und meldete mich lautstark zu Wort. Eines Tages nahm Conze mich zur Seite und fragte, warum ich nie ins Seminar sondern nur zu den Vorlesungen käme. Er würde sich über meine Mitarbeit dort freuen. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich gar nicht immatrikuliert sei und eigentlich statt in der Vorlesung in der Berufsschule in der Fachklasse für Buchhändler sein müsste. Von Stund an ließ er mich nicht mehr in seinen Vorlesungen zu Wort kommen und forderte mich auf, den Hörsaal zu verlassen.

Update 08.11.2021: Protokoll der Sitzung des Philosophischen Hauptseminars (Prof. Adorno)
vom 3. Febr[uar] 1966 – Protokollant: Hans-Jürgen Krahl
Interpretation und Diskussion einer Textstelle der Wesenslogik
(Wiss[enschaft] d[er] Log[ik], Bd. 2, ed. G. Lasson,1 S. 72)

http://www.krahl-briefe.de/pdf/protokoll_adorno.pdf