Klippel und Feil(e) Tl.3

Das Klippel-Feil-Syndrom ist keine Krankheit und damit auch nicht heilbar. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Haltung, mit der die davon Betroffenen durchs Leben gehen. Es bleibt in vielen Fällen lange unerkannt und unbekannt. Erhält man die Diagnose im Laufe seines Lebens zu einem sehr späten Zeitpunkt, muss man sein bis dahin normales Leben völlig neu ausrichten und darauf einstellen.

Vor ein paar Tagen entdeckte ich in einem Ratgeber des »Klippel-Feil-Syndrom e.V.« einen »Reflexionsbogen«1 zur Selbsteinschätzung, ob man davon betroffen ist. Ich halte nichts von Selbstdiagnosen, wenn sie nicht überprüft werden; aber zur groben Orientierung taugt der Bogen.

1. Wurden bei Ihnen Blockwirbel diagnostiziert, welche seit Geburt vorhanden sind.? – JA

2. Haben Sie eine komplette Fusionierung der Halswirbelsäule? (C1-C7) – NEIN

3. Haben Sie eine Teilfusionierung der HWS? (zwei oder mehr Wirbel) – JA

4. Leiden Sie an einer oder mehreren Begleiterkrankungen?

Lungenerkrankung? – JA

Schwerhörigkeit? – JA

5. Leiden Sie an chronischen Schmerzen? – JA

Es gibt weitere Symptome, die auf KFS (Klippel-Feil-Syndrom) hinweisen; davon später.

Ich beklage keine Odyssee bis zur Erkenntnis von KFS, sondern setze einfach ein paar Markierungspunkte:

[1] Als Kind hustete ich mir die Seele aus dem Leib, so erzählte man es mir. Ich erinnere mich an die Wohnung in der Bienenstraße in Heidelberg. Nächte stand meine Tante mit mir auf dem Arm am geöffneten Fenster. Wir schauten den kleinen Gaisberg hinauf, Molkenkur, Schloss, Königstuhl. Sie klopfte mir auf den Rücken und erzählte Geschichten bis ich soweit wieder Luft bekam, dass sie mich ins Bett zurücklegen konnte. Asthmatische Bronchitis sagten die Ärzte, das wächst sich aus. Ich war ungefähr fünf Jahre alt, wohnte inzwischen mit meinen Eltern in Mannheim, ausgewachsen hatte sich gar nichts; es läge an der miserablen Mannheimer Luft. Für fast ein Jahr kam ich nach Pontresina ins Kinderheim Kober. Es war ein privates Kinderheim, meine Eltern mussten für meinen Aufenthalt bezahlen; sie arbeiteten beide in der Gastronomie bei der Bundesbahn. Heimaufenthalte mit Beteiligung der Krankenkasse folgten erst später.

[2] Ich war etwas kleiner als die anderen Kinder in meinem Alter und hatte einen etwas kürzeren Hals. Das machte mir nie etwas aus und macht mir auch heute nichts aus. Größenmäßig befinde ich mich auf der Höhe von Gregor Gysi und Heinrich Lummer; Parteivorsitzender oder Innensenator wollte ich nie werden.

[3] Meine Schwerhörigkeit belastete meine Umgebung lange Zeit stärker als mich selbst; ich kam damit klar, ich kannte nichts anderes. An den Zeitpunkt, an dem HNO Ärzte begannen, sich mit mir zu beschäftigen, erinnere ich mich nicht. Mit meiner Mutter ging es regelmäßig in die HNO Abteilung des Theresien Krankenhauses zum »Kuckuck« machen. Ich musste mir ein Nasenloch zu halten, der Doktor nahm einen Gummiballen mit einem Aufsatz, den er mir in das freie Nasenloch steckte. Während er auf den Ballen drückte und mir Luft in das Nasenloch blies, musste ich »Kuckuck« schreien. Dann kam der »Kuckuck« in das andere Nasenloch. Meine Ohren gingen irgendwie auf und alles war sehr laut. Nach ein paar Stunden war der »Kuckuck« wieder ausgeflogen und die Lautstärke für mich normal.

Während der Schulzeit besuchte ich zeitweise den Förderunterricht für Hörgeschädigte in der Uhland – Schule. Die haben mich allerdings nicht behalten; so taub war ich nun doch nicht.

[4] Wirbelsäule – Recherche anhand von Dokumenten:

4.2.1969 Kreiswehrersatzamt Mannheim: Sie sind am 4.2.69 gemustert worden. Die Entscheidung wird ausgesetzt. Sie werden gebeten, sich sofort zur fachärztlichen Untersuchung einzufinden.

11.02.1969 Tauglichkeitsgrad U = dauernd untauglich. Wirbelsäulenveränderung. Oberregierungsmedizinalrat Dr. Nöllmayer. Eintrag im Wehrpass: Der Wehrpflichtige wird ausgemustert und unterliegt nicht der Wehrüberwachung. Koller – Oberregierungsrat.

Daraus folgt: Mit 19 Jahren habe ich von Oberregierungsmedizinalrat Dr. Nöllmayer zum ersten Mal im Leben von der Anomalie meiner Wirbelsäule erfahren. So unglücklich war ich darüber allerdings gar nicht. Um meinen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer brauchte ich mich nicht mehr zu kümmern. Von KFS war nicht die Rede.

[5] Ich hasste den Turnunterricht in der Schule. Bodenturnen, Barren, Reck, bei allem, bei dem man die rechte Hand und den rechten Arm brauchte, hatte ich Schwierigkeiten. Sehr oft trug ich damals schon rechts eine Gelenkstütze aus Leder. Später diagnostizierte ein Arzt »Tennisarm«, Tennis habe ich nie gespielt ab zu zu mal Federball. Das konnte es nicht sein. Schwimmen ging auch nicht, war sogar im Schwimmverein. Zu trainieren versuchte mich Hans F., mehrfacher Halter von Europa- und Weltrekorden, Gewinner einer Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in München, vergeblich. Im rechte Arm hatte ich einfach keine Kraft; ich kann heute noch nicht schwimmen.

Längere Zeit an der Schreibmaschine war und ist anstrengend, ich absolvierte eine Buchhändlerlehre im Wissenschaftsbuchhandel und musste Rechnungen für Institutsbibliotheken schreiben. Später am Computer diagnostiziert man die Schmerzen in Hand und Arm als »Mausarm«. Ursprünglich wollte ich Buchdrucker werden, aber Druckplatten schleppen war auf Dauer nichts für mich.

Literatur & Quellen:
1Klippel-Feil-Syndrom e.V (Hrsg.): Mitten im Leben – und doch Anders, 1. Auflage Aufl., Halle 2021, S. 53.

❱ ausführliche Liste mit Literatur und Quellen

Klippel und Feil(e) Tl.2

Die Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule gelten als typische klinische Zeichen des Klippel – Feil – Syndroms (KFS), finden sich aber bei weniger als der Hälfte der Betroffenen. Der Umfang der Beweglichkeit bleibt oft überraschend groß. Eine Therapie ist bei geringer Ausprägung der Fehlbildungen oft nicht notwendig und betroffene Kinder können ein weitgehend normales Leben führen. Wenn im Erwachsenenalter Beschwerden auftreten, reichen oft konservative Maßnahmen aus.

Die Veränderungen der Halswirbelsäule haben eine gute Prognose bezüglich der Lebenserwartung. Ich bin damit inzwischen einundsiebzig Jahre alt geworden und befinde mich in bester Gesellschaft mit Tutanchamun und Cardinal Carlo de‘ Medici.

Röntgenaufnahme der Mumie des Pharaos haben ergeben, dass er unter einer abnormen Krümmung der Wirbelsäule litt sowie Anzeichen des Klippel Feil-Syndroms aufwies. Tutanchamun dürfte auch mit Hörstörungen, Zahnfehlbildungen und Bewegungseinschränkung gekämpft haben. Zudem litt er vermutlich unter Migräne.

Carlo de‘ Medici (1595-1666) war der dritte Sohn von Ferdinand I. und Cristina von Lothringen und strebte schon früh eine kirchliche Laufbahn an, die mehr als fünfzig Jahre dauerte, in denen er in verschiedene prestigeträchtige Positionen berufen wurde. 1615, im Alter von 20 Jahren, wurde er unter Papst Paolo V. zum Kardinal und 1652 zum Dekan des Kardinalskollegiums ernannt. Carlo liebte jedoch die Vergnügungen des Lebens; seine Lieblingsbeschäftigungen waren die Jagd, das Schlemmen, das Glücksspiel. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik und des Theaters, er sammelte Kunstwerke und ließ einige der Medici-Residenzen restaurieren und neu ausstatten.

Das Skelett von Carlo zeigte eine Konzentration von verschiedenen schweren Pathologien. Die Ankylose der zervikalen Säule, verbunden mit anderen Gesichts- und Wirbelsäulenanomalien, legt die Diagnose einer angeborenen Krankheit nahe: das Klippel-Feil-Syndrom. Außerdem zeigt das zervikale Segment die Folgen der Tuberkulose (Morbus Pott), an der der Kardinal im Säuglingsalter litt. Das postkraniale Skelett zeigt eine überwiegend symmetrische und äußerst schwere ankylosierende Erkrankung, die sowohl die großen als auch die kleinen Gelenke betraf und durch massive Gelenkverschmelzungen gekennzeichnet war, die den Kardinal in seinen letzten Lebensjahren vollständig behinderten

Ab 1658, als er 63 Jahre alt war, war er nicht mehr in der Lage, Briefe oder Dokumente zu unterschreiben. In einem Brief an einen Neffen vom 4.12.1658 schreibt er: » … bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht mit meiner eigenen Hand (Schrift) unterschreiben kann, da meine Hand nicht funktioniert.« Vom 50. bis zum 70. Lebensjahr war der Kardinal von wiederkehrenden Bronchitiden geplagt und starb schließlich im Alter von 71 Jahren an einer Bronchopneumonie.

Dass die Hand nicht funktioniert, ist eine Gemeinsamkeit zwischen Carlo und mir. Bei mir tritt dies bisher zum Glück nur phasenweise auf; hatte jedoch Folgen: Ein Buchprojekt, für das ich einen Verlagsvertrag hatte, musste ich aufgeben. Mit dem Schreiben für Zeitungen und Magazine ist es auch vorbei. Depressive Phasen, die das auslöste, sind überwunden. Wenn ich heute nicht schreiben kann, greife ich zum Smartphone und diktiere. Korrekturen am Rechner bearbeite ich, wenn schreiben wieder geht.

Literatur und Quellen:
»Tutanchamun hatte ein krummes Kreuz« Der Spiegel 01.10.2002
V. Giuffra, A. Vitiello, S. Giusiani, A. Fornaciari, D. Caramella, N. Villari, G. Fornaciari: »Rheumatoid arthritis, Klippel-Feil syndrome and Pott’s disease in Cardinal Carlo de’ Medici (1595-1666)« in Clinical and Experimental Rheumatology 2009; 27: 594-602

❱ ausführliche Liste mit Literatur und Quellen