Wer bin ich? – Behinderung, Sprache & Identität

Als Epigraph auf der Startseite steht ein Zitat von Novalis aus seinen »Bruchstücke medizinischer Enzyklopädistik«

Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung. Man muss sie durch tägliche Bemerkungen zu benutzen suchen. Ist denn nicht das Leben des gebildeten Menschen eine beständige Aufforderung zum Lernen? Der gebildete Mensch lebt durchaus für die Zukunft. Sein Leben ist Kampf; seine Erhaltung und sein Zweck Wissenschaft und Kunst.

Novalis wurde auf den Namen Georg Philipp Friedrich von Hardenberg getauft. Der letzte Vorname vor dem Familiennamen – so war das damals üblich – wurde zum Rufnamen. Also Friedrich – oder Fritz eher wohl »Fritze«. Ich halte mich meistens an Fritzens selbstgewählte Identität: Novalis. Aber Fritze steht mir manchmal näher.

Mein Bruder wollte – so erzählte man es mir – dass ich Georg Franz heißen sollte. Daraus wurde nichts; dennoch nannte man mich lange Zeit »Schorsch«. Mein Bruder sagte manchmal auch Ignatz zu mir.

Für mich gilt: »Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung. Man muss sie durch tägliche Bemerkungen zu benutzen suchen.« Sonst würde ich hier nicht schreiben.

Krankheit und Behinderung ist keine monolithische Erfahrung. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte – und wie wir uns in der Welt bewegen, ist ebenso vielfältig und komplex.

Ich lese seit gestern »Entstellt: über Märchen, Behinderung und Teilhabe« von der kanadischen Autorin Amanda Leduc. Ihre Methode beim Schreiben fasziniert und kommt mir sehr nahe. Sie arbeitet Konsultationsberichte ihres Neurochirurgen ein, der sie im Alter von vier Jahren zum ersten Mal operierte; sie hat eine Zerebralparese.

»Ich habe Auszüge aus diesen Berichten eingefügt, weil für mich das Verständnis dessen, was meinen Eltern über meine Behinderung gesagt wurde – und auch dessen, was meine Ärzt*innen sich selbst darüber sagten -, entscheidend ist für mein eigenes Verständnis davon, wie meine Behinderung sich auf mein heutiges Leben auswirkt. Indem ich die Aussagen meines Arztes hier veröffentliche, versuche ich, mir mein eigenes Narrativ zurückzuerobern. Ich möchte dennoch betonen, dass niemand von behinderten Menschen erwarten darf, dass sie ihre Krankenakten mit der Öffentlichkeit teilen. Bei meinen Erfahrungen mit der medizinischen Welt hatte ich großes Glück – und Privilegien -, mir ist bewusst, dass dies für viele nicht gilt.«

Leduc, Amanda: Entstellt: über Märchen, Behinderung und Teilhabe, übers. von. Josefine Haubold, Deutsche Erstausgabe Aufl., Hamburg: Edition Nautilus 2021 (Nautilus Flugschrift). S.15

Das gilt ähnlich für mein Schreiben hier; ob ich Glück und Privilegien hatte, kann ich nicht beurteilen – es hätte jedoch auch schlimmer kommen können.

Sehr verstört mich Leduc mit ihren Bemühungen zum korrekten sprachlichen Umgang mit Behinderungen. Identitätsbezogene Sprache vs. personenbezogene Sprache ist für sie eine wichtige Unterscheidung. Ich sehe mich damit zum ersten Mal konfrontiert im Umgang mit mir selbst.

Habe mich mit Leitlinien für den »Gesundheitsjournalismus« aus den USA beschäftigt, mir die Leitlinien für integrative Sprache »Gleichheit, Vielfalt und Inklusion« der APA American Psychological Association heruntergeladen und übersetzt, der im Original auf 27 Seiten Haarspalterei und Spitzfindigkeiten betreibt. Ich bin entsetzt und wütend, mit welchem Furor hier mit Menschen und Sprache umgegangen wird.

Diese Leitlinien sollen das Bewusstsein schärfen, das Lernen anleiten und die Verwendung von kulturell sensiblen Begriffen und Formulierungen unterstützen, die die Stimmen und Perspektiven derjenigen in den Mittelpunkt stellen, die oft an den Rand gedrängt oder stereotypisiert werden. Sie erläutern auch die Ursprünge problematischer Begriffe und Formulierungen und bieten geeignete Alternativen oder zeitgemäßere Ersetzungen an. Dieses Dokument wird flexibel und iterativ sein und sich ständig weiterentwickeln, wenn neue Terminologie auftaucht oder die aktuelle Sprache veraltet.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir durch die Einführung einer integrativen Sprache und die Ermutigung anderer, es uns gleichzutun, nicht nur mit mehr Menschen effektiv kommunizieren, sondern uns auch besser an eine sich diversifizierende Gesellschaft und Welt anpassen können.

https://www.apa.org/about/apa/equity-diversity-inclusion/language-guidelines

Die Sprache, die von der Person ausgeht, stellt die Person vor jeder Beschreibung vor. Beispiele hierfür sind »Person mit einer Behinderung«, »Patient mit Krebs« und »Kind mit Zerebralparese«. Die Sprache, die von der Person ausgeht, soll die Gesamtheit einer Person hervorheben und vermeiden, dass sie ausschließlich durch ihre Behinderung oder ihren Zustand definiert wird. Bei der identitätsbezogenen Sprache wird eine Person zuerst beschrieben, wie z. B. Autist und blindes Kind. Dies geschieht oft mit dem Gedanken, dass das betreffende Merkmal ein integraler Bestandteil der Identität und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist und eher hervorgehoben als heruntergespielt werden sollte. (Definition von thesaurus.com)

Tara Haelle in ihren Empfehlungen für Journalisten: »Die meisten Gehörlosen bevorzugen eine Sprache, die die Identität in den Vordergrund stellt, nicht die Person in den Vordergrund, und sie lehnen die Bezeichnung »hörgeschädigt« ab, weil viele die Unfähigkeit zu hören nicht als Defizit empfinden. (Auch Gehörlose sollten manchmal großgeschrieben werden.) Es ist immer am besten, sich bei der betreffenden Person zu vergewissern, ob es sich um eine Person handelt. Ist dies nicht der Fall, verwende ich das, was die Gemeinschaft im Allgemeinen verwendet.«

Ich habe dank Klippel – Feil Syndrom von Geburt an eine Schädigung meines Gehörsinns, eine Mittelohrschwerhörigkeit. Mich hat noch nie jemand gefragt, ob es sich bei mir um eine Person handelt oder nicht. Sollte dies jemand tun, haue ich ihm zur Identitätsfindung eine in die Fresse. »Sorry, ich bin gehörlos, ich habe Dich nicht verstanden!«